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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 26.1916

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Heft 9
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Bartels, Ilse: Wandlung
DOI Artikel:
Stoecklin, Francisca: Träume
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https://doi.org/10.11588/diglit.26490#0324

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Wandlung.
die Gedanken nicht auf die Bücher bringen. Die Mutter
ging mit ihm spazieren und sie gingen wie immer, die
Mutter voran, und er langsam hinterher trottend.
Er spielte dabei für sich — sonderbare Spiele, die
niemand kannte. Er sprach mit den Blumen, oder er
ging in dem Weg hin und her, leise den Körper wiegend,
wie der Musiker von drüben, und dabei fielen ihm dann
alle die Melodien ein und summten in seinem Kopfe.
Aber es wollte heute garnicht recht gehen mit dem
Spielen, es kamen ihm gar keine Gedanken dazu. Heute
war es so langweilig, und er mußte doch immer an die
andern draußen im Wald denken. Er wollte zählen,
dann brauchte er nicht mehr daran zu denken. Er lief
immer drei Schritte vor und einen zurück, eine ganze
Weile lang, aber das machte müde. Nun ging er ruhig,
und bei jedem dritten Schritt mußte er ganz schnell die
Zungenspitze herausstrecken und wieder zurückziehen.
Da mußte man scharf aufpassen. Sie waren schon in
ihrer Straße. Gerade vor ihrem Hause war der dritte
Schritt. Die alte Dame von unten saß am Fenster und
sah hinaus. Er konnte es wirklich nicht ändern, — es
war der dritte Schritt, — blitzschnell streckte er die Zunge
aus und sah schüchtern hinauf, — nein, sie sah nicht zu
ihm herunter.
Nach einiger Zeit kam die Mutter aufgeregt in sein
Zimmer: Was bist du für ein häßlicher Junge, einer so
alten Dame die Zunge auszustrecken. Eben hat mich
die Dame nach unten rufen lassen."
„Ich habe ihr garnicht die Zunge ausgestreckt,"
stotterte er, „es war doch ein Spiel."
„Du brauchst das nicht zu beschönigen. Ich hoffe,
daß du es nicht wieder tust und sie gleich morgen um Ver-
zeihung bittest."
Er krampfte die Hände ineinander und senkte den
Kopf: daß sie das nicht verstand, wenn sie es ihn: doch
wenigstens glauben wollte. Es stieg ihm heiß und dick
in die Kehle, er würgte es tapfer hinunter, er wollte
nicht weinen.
Als sie vom Abendtisch aufstanden, kam ein Wagen
vorbeigefahren, und viele Helle Stimmen riefen: „Jürgen,
Jürgen, Mutter-Jürgen." — „Wer war das?" fragte
die Mutter. — „Meine Klasse," sagte er leise.
„Wo waren die denn?"
„Beim Hans eingeladen."
„Und du nicht?"
„Doch" . . .
„Das hast du ja garnicht gesagt, hattest du keine Lust?"
„Doch, wohl."
„Warum bist du denn nicht dabei? Was hast du denn
gesagt?" — die Mutter sah ihn streng an.
„Ich ... ich könnte nicht."
„Das ist ja garnicht wahr!" Sie faßte seinen Arm:
„Das ist ja gelogen! Warum hast du die Unwahrheit
gesagt?"
Jürgen schwieg. „Nun?" — die Mutter schüttelte ihn.
„Ich dachte — ich meinte — du ... ich dürfte nicht."
Da brannte ihre Hand auf seiner Backe. Er taumelte
zurück. Leichenblaß und bebend lehnte er sich an die
Wand.
„Geh zu Bett," sagte die Mutter streng und wandte
ihm den Rücken zu.

Er lag im Bett und zitterte noch am ganzen Körper,
als die Mutter Mit der Lampe zu ihm herein kam. Sie
setzte sich nicht an sein Bett, wie sonst. Sie blieb stehen,
mit der Lampe in der Hand. „Das war ein schlimmer
Tag," sagte sie, „zweimal hast du gelogen."
Er sah auf den grünen Schein der Lampe auf seiner
Decke. Wie aus weiter Ferne drang ihre Stimme zu
ihm, aber er konnte doch verstehen, was sie sagte.
„Wir können heute nicht zusammen beten. Ich will den
lieben Gott bitten, daß ^r die rechte Art findet, dich zu
strafen." — Sie küßte ihn nicht wie sonst auf die Stirne.
Sie ging mit der Lampe hinaus. Er sah noch den Licht-
schein durchs Schlüsselloch hereindringen, ein feiner,
langer Strahl, der bis auf seine Hände fiel.
Er steckte den Kopf unter die Decke. Die Mutter hatte
ihn geschlagen! Sie war zornig gewesen und hatte ihn
geschlagen! Ob das auch zu dem Häßlichen, zu dem
Kummer gehörte? Und nun wollte sie noch zum lieben
Gott bitten, daß Er ihn strafen möge. Er schlug die Decke
zurück, es lief ihm heiß über den ganzen Körper. Der
Mond schien wie gestern zu ihm herein, er hatte den Boden
silbern gemacht, wie in einem Märchen.
Jürgen erschauerte. Er konnte die Hände nicht falten,
er konnte nicht beten. Er konnte auf einmal nicht mehr
glauben, daß das der liebe Gott sei. Die Falte grub sich
wieder tief zwischen die dunklen Augen. Der liebe Gott
mußte ganz anderswo sein, er mußte etwas Fremdes,
Feindliches sein, das er mit der Mutter hielt. Er würde
es ja wohl mit ihr halten, wenn sie betete. Wo mochte
der liebe Gott sein? Ganz weit, ganz fremd und dunkel
mußte er sein, nicht licht und mild, wie der Mond.
Wie tat das Denken so weh, und er konnte doch nichts
richtig ausdenken, es war, als wankte auf einmal alles
um ihn, als sei alles Helle, Lichte verschwunden, und es
war einsam, dunkel und kalt. Die Mutter war ihm noch
ferner gerückt, und den lieben Gott hatte er verloren.
Ein heißes Sehnen und Flehen stieg in ihm auf,
das doch wie ein Beten war. Ein Sehnen, daß er doch
einmal, einmal wissen könnte, wer der liebe Gott sei.
Ein Beten, daß er groß und stark werden möchte, und
mächtig, daß er nie mehr zu bitten brauche, und daß
nie jemand ihn bitten solle, in Furcht. Er war so ein-
sam, daß ihn fror, aber er warf sich nicht in die Kissen
und weinte, er fühlte etwas Neues in sich, das er nicht
gekannt. Er wußte nicht, was es war, es war so, daß er
die Hände ballen mußte.
Der Mond sah immer noch lächelnd ins Zimmer und
sah auf den schlafenden Knaben. Er mußte wohl ver-
wundert sein, daß er nicht wie sonst dalag, daß er die Hände
geballt hatte und den Mund trotzig geschlossen. f599^s
c*>räume.
Von Franziska Stoecklin.
Der Mond.
Ich laufe durch viele Straßen mit furchtbar zerfalle-
nen Häusern und hohem Geröll Wällen, die immer
dunkler und gespenstischer werden. Ich weiß nicht, woher
ich komme noch wohin ich gehe, aber ich bin gezwungen
zu laufen, immerfort zu laufen . . . Aus einem der

zio
 
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