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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 26.1916

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Heft 9
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Ernst, Paul: Ein moderner Naturalist
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https://doi.org/10.11588/diglit.26490#0329

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Ein moderner Naturalist.

werden nie wissen, ob das eintrifft, und ob sie nicht am
Ende ihres Schaffens, wenn sie die Bilanz ziehen, sich
sagen müssen: wir haben ein für unser Volk gleich-
gültiges Asthetendasein geführt.
Es liegt in der Natur der Sache, daß solche natura-
listischen Romane einen vielleicht größeren Wert für die
Einsicht in die Zustände des Volkes haben, in dem sie
spielen, als sie rein dichterisch bedeuten. Das erste Werk
Reymonts, „Polnische Bauern", hatte auch rein dich-
terisch, abgesehen vom Inhaltlichen, einen sehr hohen
Wert. Der Dichter hat offenbar seine Jugend im pol-
nischen Dorf verbracht, und er hat nicht nur aus der
Beobachtung dargestellt, sondern aus dem Gefühl.
Es ist damit folgendes gemeint:
Wenn ich ein Ding, das mir bis dahin unbekannt war,
darstellen will, so sehe ich es genau an, bis ich den Punkt
finde, von dem aus ich es darstellen muß. Mein Werk
wird dann richtig sein, und niemand kann mir etwas
vorwerfen: aber es ist tot. Flaubert hat einmal an Mau-
passant geschrieben: Starre ein Stück Natur so lange an,
bis du den Punkt findest, den noch niemand vor dir
gesehen hat; er meint damit dasselbe, den Punkt, von
dem aus die Darstellung gehen muß. Für den Natura-
listen, dem ja von außen her, von der Gesellschaft,
seine Gegenstände gegeben werden, ist diese Art von
Arbeit die natürliche und einzig mögliche.
Wenn ich aber ein Ding ganz genau kenne, nicht durch
Beobachtung oder Untersuchung, sondern weil ich mit
ihm gelebt habe, weil vielleicht schon meine Ahnen mit
ihm gelebt haben, wenn ich es im Gefühl besitze, dann
kann ich es ganz anders darstellen. Ich bin garnicht so
genau, denn ich habe die Wirklichkeit nicht vor den Augen,
aber ich habe das Ding lebendig und organisch in mir.
Goethe konnte sich, wenn er die Augen schloß, eine Rosen-
knospe sinnlich vorstellen, die sich langsam öffnete: er
hatte die Knospe im Gefühl. Der Naturalist könnte sich
nur eine Knospe vorstellen oder eine erschlossene Blüte,
denn er hat jedesmal beobachten müssen.
In den „Polnischen Bauern" ist dieses Leben; in
dem neuen Roman ist es nicht; man muß hier mit den
anderen Vorzügen zufrieden sein.
Diese aber sind sehr groß. Reymont ist klüger als
Zola und sieht tiefer; er hat auch eine viel größere Dar-
stellungskraft.
Das polnische Volk hat furchtbare Schicksale durch-
gemacht; noch furchtbarere aber stehen ihm offenbar
bevor. Das Bisherige kam nur von außen; aber durch
seine Lage, wodurch es dem übermächtigen zivilisatorischen
und kulturellen Einfluß der Deutschen ausgesetzt ist, und
durch den großen nationalen Fremdkörper der Juden,
den es in sich hat, bereiten sich jetzt innere Kämpfe vor,
die viel schlimmer sein werden als die bisherige Zer-
splitterung und die Unterdrückung durch die russischen
Machthaber. Dazu kommt eine soziale Umschichtung,
die noch viel rascher geschieht, als bei uns in Deutsch-
land, wo durch sie doch auch schon das ganze Volk er-
schüttert wird: der Adel geht zugrunde, es bildet sich ein
nationales Bürgertum, das doch gar keine Tradition hat,
und der Bauernstand zersetzt sich durch das Eindringen des
Neuen. In dem Industriezentrum Lodz spielt sich ein
Teil dieses Vorgangs ab, der vielleicht grausigste Teil.

Wir werden uns ja noch sehr mit Polen beschäftigen
müssen, und es wird gut sein, für die Polen wie für uns,
wenn wir das Land und Volk besser kennen lernen.
Die besten Führer durch ein fremdes Land sind die Dich-
ter; und von einem Naturalisten kann man nicht nur
mittelbar, sondern auch unmittelbar eine Menge prak-
tisch zu Verwertendes lernen. Schon aus diesem Grunde
ist das Buch auf das wärmste zu empfehlen.
Wir müßten ja verzweifeln, wenn wir unsere Zeit
nicht als einen bloßen Übergang zu einer höheren Form
der menschlichen Gesellschaft betrachteten, denn alles
wird aufgelöst und nichts wird neugebildet von mensch-
lichen Beziehungen, überall werden Menschen verbraucht
und nirgend werden neue Einrichtungen geschaffen,
durch die Menschen wieder entstehen können; und so ist
denn der Gesamteindruck unserer Zeit der einer allge-
meinen Zwecklosigkeit des menschlichen Daseins: ein
jeder ist nur ein Teil einer ungeheuren Maschine, keiner
ist frei. Zola fand sich noch nicht aus diesem Höllenstrudel
heraus, daher ist immer eine tiefe Niedergeschlagenheit
das Ergebnis seiner Dichtung. Reymont sieht offenbar
irgendwo einen Ausweg; er scheint ihn in der sittlichen
Selbstbefreiung des Einzelnen zu finden. Am Schluß
erzählt er von seinem Helden: „Er hatte nun die ersehn-
ten Millionen, berührte sie tagtäglich, lebte mit ihnen
und sah sie überall um sich herum. Aber diese Arbeit,
die seine Kräfte überstieg, erschöpfte ihn physisch, und
die Millionen brachten ihm keine Befriedigung — im
Gegenteil, immer müder fühlte er sich, immer gleich-
gültiger und immer trauriger, immer häufiger gähnte
die Langeweile in seiner Seele, immer häufiger fühlte
er die Einsamkeit...." „Der Mensch kann nicht für sich
allein leben — er darf es nicht, bei Gefahr seines eigenen
Unglücks." Diese Wahrheit kannte er wohl, jetzt aber saf-
er sie erst klar und begriff sie in ihrem ganzen Wesen ....
„Mein eigenes Glück habe ich verspielt! .... Man muß
es für andere schaffen" flüsterte er leise und umfing
mit einem kräftigen, männlichen Blick wie mit den Armen
eines unverbrüchlichen Entschlusses die schlafende Stadt
und die grenzenlosen Ebenen, die aus der dunkeln Nacht
emporstiegen."
Wir sehen ja hier die Grenze der naturalistischen
Dichtung. Innerhalb des Bereiches, den der Dichter
dargestellt hat, und in der Form, wie er darstellt, ist
die sittliche Selbstbefreiung eine Donquichotterie. Ein
Dichter, der sie darstellen will, kann nicht als Naturalist
vorgehen, er muß eine ideale Welt schaffen, in der sie
vernünftig ist. In seinem eigenen Buch zeigt der Dichter
hier den Bruch unserer literarischen Tradition. Aber daß
er das tut, das beweist wieder, wie tief verwachsen er
mit seiner Aufgabe ist: er ist ein ganzer Mensch; er ist
kein Ästhet und Literat, sondern er ist ein Dichter. f613s>
Paul Ernst.
om Leben der Dichter.
Verträumte schreiten sie durch den betriebsamen Alltag.
In ihren Seelen ist wehmütig-süßes Erinnern an eine ferne ver-
lorene Heimat. Die müssen sie immer suchen in unerfülltem Hoffen,
in verzehrender Qual. Gegen die Gemächlichkeit der Bürger
schreit ihr Blut auf und sie leben ein loderndes Leben und ver-
messene Sehnsucht. Die Bürger aber, deren Enkel dereinst die
Werke dieser Suchenden als Prunkstücke ihrer Bildung in ihren
Zl5
 
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