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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 26.1916

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Heft 2
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Bacmeister, Ernst: Die Giftkugel des Himmels
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Stauff, Philipp: Versuch einer deutschen Deutung des Karnevals
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https://doi.org/10.11588/diglit.26490#0070

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Die Giftkugel des Himmels.

die sich nicht mehr nur auf das jeweilige und nächste
Andere erstreckt, sondern auf alles Andere, — erst da
sinkt des Teufels Banner entkräftet in den Staub.
Es gibt nämlich noch einen anderen Geist als jenen
der Vereinzelung, der sich in der Politik zum Einzelgeist
eines Volkes und aus dem selbstsüchtigen Widerstreit
der Individuen zum Krieg der Staaten potenziert.
Außer dem Willen zum Dasein, der sich notwendig als
Wille zur Macht bekundet und dem der Verstand die
Wege findet und die Mittel erfindet, gibt es, vermöge
der Vernunft, ein Begreifen des Daseins, das sich
ebenso notwendig ohne Machtanspruch als Gerechtigkeit,
oder, wo die Wärme der Sympathie in das reine Denken
mit hinübergenommen wird, als Güte offenbart. — Es
ist eben doch möglich, daß Gott Etwas und Alles zugleich,
daß er Alles in Einem ist.
Wenn ein Mensch aus ganzer Tiefe den Zusammen-
hang alles Seienden, von der widerspruchsvollen Er-
scheinung unverwirrt, begriffen hat, und wenn er, davon
im Herzen betroffen, seinen eigensüchtigen Einzelwillen
in diesen Zusammenhang des All untergehen läßt und
das sonst feindliche Andere, froh des lebenzeugenden
Gegensatzes, liebend anerkennt: dann jedesmal hat Gott
sein Ziel erreicht. In einem solchen Weisen ist das un-
bewußte und darum nichtige All zu einem bewußten
und erfüllten geworden. Die dissonante Welt zeigt sich
als das, was sie ist: als ein Übergang aus dem dunklen,
unbegrenzten Sphärengewoge in die begrenzte Sym-
phonie einander im Geiste liebender Individuen. Das
träumende Chaos will wacher Kosmos werden. Es kann
das nur im kosmisch gesinnten Individuum, weil der
individuelle Leib Voraussetzung ist für das individuelle
Selbstbewußtsein und dieses Bewußtsein des Selbst Vor-
aussetzung für die Erkenntnis des Anderen als des Ur-
gemeinsamen.
Im Weisen ist das Andere zurückverschlungen in das
Selbst. Der Kreis des Werdens, mit dem Gegensatz der
Leiber, dieser Not Gottes, beginnend, ist mit der Ver-
söhnung der Geister, für Gott triumphierend vollendet.
Nun hat sich Gott aus blindem Atherklang in symphonische
Noten gesetzt, nämlich in beseelte, harmonisch gesinnte
Gestalten, und ist eine sich selber sichtbare Musik ge-
worden.
Dafür verschrieb er sich dem Teufel. Dafür wurde
er Zahn und Gier, Bauch und reißender Rachen. Dafür
wurde er Bauer und Ritter, Jude und Christ, Katholik
und Protestant, Franzose und Deutscher. Dafür wurde
er List und Erfindung; Lüge und Haß; Fürst und Volk;
Staat und Heer; Politik, Diplomat, Zeitung, Kanone
und Krieg. Tausendfach gab er sich dem Teufel der Ver-
einzelung preis, um fich spät in Einzelnen als Allbewußt-
sein wiederzufinden und fich in leiblicher Begrenzung als
grenzenlose geistige Liebe selber zu genießen.
Heute leben diese von der Vereinzelung innerlich er-
lösten Einzelnen, diese gottbefreienden Gotteskinder und
eigentlichen Menschen, deren Übergewicht die Erde zu
einem „weißen" Stern machen würde, zahlreicher als je
und doch ohnmächtig unter dem blutigen Getümmel, in
das die neuen großen, wehrhaften Tiere, die Staaten,
auf der roten Erde gegeneinander entbrannt sind.
Gleichwohl: wo Gott sich in so vielen schon gefunden hat,

das ist nicht mehr schlechthin „die Giftkugel des Himmels".
Die dichte Not Gottes, der in den Drachen seiner
Schöpfung einst gänzlich verloren schien, ist schon ge-
lichtet. Unter dem schmetternden Machtgewitter der
begrenzten Staaten blühen unbeirrt die Gerechtigkeit
und Güte jenes tiefen Begreifens, das über jede Macht
und Begrenzung hinaus ist.
Dieses Begreifen würde die Erde entgiften, wenn es
jemals die Staaten in die Menschheit aufzulösen ver-
möchte. So aber bleibt nur der Wunsch, daß demjenigen
Staate der Sieg beschieden sein möge, der seine Macht
am ehrlichsten als eine Wehr der Gerechtigkeit versteht;
denn die wehrhafte Gerechtigkeit vernichtet den Teufel
zwar nicht, wie die gewinnende Güte, aber sie raubt ihm
das Reich.
Schon neigt sich der Sieg. Das geistigste und zugleich
kriegstüchtigste Volk der Erde erkennt, als Staat an-
gegriffen, seinen Beruf, der Menschheit durch die Macht-
mittel des betrogenen Teufels, organisierte Heere und
Maschinen, die Gerechtigkeit, die Gottes Vorspiel ist,
aufzuzwingen. Das ist dann noch keine erlöste Mensch-
heit; aber die leidenschaftlichen politischen Drachen, die
lüsternen Staaten, die als letzte große Tiere eigensüchtig
an ihr reißen, sind gebändigt durch die Kraft einer über-
legen bewaffneten Vernunft. Und so, gegen sich selbst
gesichert, mag die dunkle Erde Zeit gewinnen, fich durch
den sonnenhaften Geist der Liebe zu erlösen, bevor sie
erstarrt. Dann schuf sie Gott unter den anderen Sternen
des Himmels nicht umsonst. f586s>
Ernst Bacmeister.
ersuch einer deutschen
Deutung des Karnevals.
Bis in die allerjüngste Zeit ist immer und immer
wieder im wissenschaftlichen Deutschland die Meinung
verbreitet worden, der Karneval sei lateinischen Ursprungs,
sei hervorgegangen aus den römischen Bacchanalien und
Saturnalien und all den anderen Dingen ähnlicher Art.
Und das Wort „Carneval" selber deutete man sich eben-
falls aus dem Lateinischen als „Fleisch, lebe wohl!"
Obwohl vielleicht die Deutung: Eurrus nuvulis, d. i.
Schiffskarren, nicht gar so fern gelegen hätte. Alte
geistliche und andere Urkunden belegen, daß der Karneval
nicht etwa schon mit der christlichen Kirche aus den römi-
schen Landen kant, sondern daß ihn die Kirche vielmehr
bei den germanischen Stämmen vorgefunden und not-
gedrungen mit übernommen hat, da sich so tief einge-
wurzelte Volksbräuche erfahrungsgemäß immer als un-
ausrottbar erweisen.
Neuerdings hat nun C. Clemen Feststellungen in
bezug auf Alter und Herkunft des Karnevals versucht;
sicher vermochte er im „Archiv für Religionswissenschaft"
aber nur darzutun, daß der Karneval nicht aus Rom
komme und daß er auch nicht erst in der christlichen Kirche
neu entstanden ist, also Dinge, die bekannt waren. Wohl
schließt der Religionshistoriker Clemen, daß es sich ur-
fprünglich um einen Fruchtbarkeitszauber gehandelt
habe; aber dieser Schluß läßt die Tatsache außer acht,


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