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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 26.1916

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Heft 4
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Mahrholz, Werner: Der Dichter und die moderne Lebensordnung: Betrachtungen zu Cervantes' 300. Todestage
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Röttger, Karl: Jesus als Kind: Legende
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https://doi.org/10.11588/diglit.26490#0148

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Der Dichter und die moderne Lebensordnung.
brecherische. Wenn uns aber bei Don Quichote, dem Halb-
narren, und bei Lizentiaten Vidriera, dem Ganznarren,
eben weil sie Menschen waren, ihr Scheitern in der
Menschenwelt im Grunde verstimmt und satirisch-
angriffslustig macht, so lachen wir hier, wo uns das
Menschentreiben aus der Tierperspektive vorgeführt
wird, eben weil es Tiere vorführen und so unsere Scham
sowohl größer als auch freier vom zufällig Bedingten
wird. Cervantes erhebt sich hier über das Menschenwesen
und gelangt so als komischer Schriftsteller zum Humor,
wo ein tragischer Dichter zum Religiösen gekommen wäre.
Die Lebensgeschichte des Hundes Berganza ist der
Technik nach ein Schelmenroman, d. h. der Hund wechselt
oft seinen Besitzer und lernt so, aus der Bedienten-
perspektive, viele verschiedene Stände kennen. Er ist
nacheinander bei einem Metzgerknecht, bei Schafhirten,
bei einen: Kaufmann, bei einem Polizisten, bei einem
Trommler, bei Zigeunern, bei Morisken (getaufte
Juden), bei einen: hungernden Dichter (der natürlich
bei Cervantes nicht fehlen darf), bei einem Schauspiel-
direktor, um endlich in: Auferstehungshospital als. Wach-
hund zu enden. Diese Wanderung des Hundes durch die
verschiedenen Stande und sozialen Schichten gibt den:
Dichter Gelegenheit, die typischen Laster und Gebrechen
der Menschen zu geißeln — jedesmal aber, wenn die Hunde
im Gespräch einen Übelstand gegeißelt haben, wird der
bitter-satirische Eindruck wieder aufgehoben durch Selbst-
ironie. Es sei ein Beispiel zitiert, um das Gesagte klar-
zumachen. Berganza erzählt z. B. von den: Ehrgeiz
des reich gewordenen Kaufmanns, der seine Söhne
studieren läßt. Cipion, der Räsoneur, geißelt daraufhin
diese Sitte der Parv_enüs als Unsitte. Ihn: erwidert
Berganza: „Es ist Ehrgeiz, aber ein Ehrgeiz edler
Art, wenn man seinen Stand ohne Beeinträchtigung
eines Dritten zu verbessern strebt.
Cipion: Selten oder nie wird der Ehrgeiz ohne Nach-
teil eines Dritten befriedigt.
Berganza: Wir sind bereits übereingekommen,
nicht zu lästern.
Cipion: Ja, ich lästere auch über niemand.
Nun hält ihm Berganza vor, daß sein Moralisieren
eigentlich Lästerung sei. Cipion sieht es ein und bereut, so
wird schließlich der Satire die Spitze abgebrochen und alles
im Spiel aufgelöst. Und so wie in diesem Beispiel geht
es so oft. Jedesmal, wenn etwas ernsthaft satirisch klingt,
wird es in: Zwiegespräch ironisch aufgelöst. Der Inhalt
der Satire ist in dieser Novelle kein anderer wie in anderen
Werken des Cervantes. Seine positive Moral des de-
mütigenden Christentums ist auch hier tragender Grund
seines Dichtens, aber die Form des ironischen Zwie-
gesprächs löst mit unendlicher Grazie alles Schroffe der
Moral in heiteres Gespräch voll ironischer Wendungen
auf und so wandelt sich der bittere Spott in heitere Welt-
überlegenheit.
V.
Höher kann ein satirischer Humorist inhaltlich und
formal nicht kommen; weder Fielding noch Voltaire,
noch Sterne, noch Hoffmann und die deutschen Roman-
tiker (diese echten Schüler des Cervantes) sind über Cer-
vantes hinausgekommen und sie konnten es nicht, weil

sie in: Prinzip ebenso zur Welt und in der modernen
Weltordnung standen wie ihr Meister und Vorbild.
Was sie von Cervantes unterschied, war eigentlich nur
der Umstand, daß sie seine innere Tüchtigkeit, welche sich
in seinem Leben an seiner Liebe zum Soldatentum
zeigt, nicht besaßen und daß sie auch die festen Wurzeln
des Glaubens, welche Cervantes im katholischen Christen-
tun: seiner Zeit hatte, nicht mehr hatten: sie waren
Bohemiens, wo Cervantes in seinem Empfinden
Christ war, sie waren sozial und geistig wurzellos,
wo es Cervantes nur sozial als Dichter, nicht
als Mensch war. So schlägt denn auch bei ihnen die
humoristische Ironie des Meisters allzuoft in Zynismus,
sein Weltschmerz in Nihilismus, sein tiefes Leiden in
frivoles Spotten um. Einzig der tüchtigste der Roman-
tiker, Hoffmann, hat in seinen besten Werken, im „Kater
Murr", etwa den tiefen Humor gefunden, den Cervantes
in seinen Berganzagesprächen entwickelt hatte.
In Cervantes' Werk nimmt die moderne Poesie der
Satire des modernen Weltzustandes ihren Anfang, so
wie in seinem Leben die Vereinsamung des Dichters
innerhalb der modernen Weltordnung jenen paradigmati-
schen Charakter cinnimmt, welchen sie bis auf unsere Tage
in immer steigendem Maße behalten hat. Daß dieser
Zustand irgendwie überwunden werden muß — am ein-
fachsten wohl durch die Anerkennung der geistigen Arbeit,
welche sich nicht auf Gelderwerb richtet, als Auch-Arbeit
von feiten der Gesellschaft — das ist die Forderung,
welche die Besten unserer Tage erheben und deren wir
bei::: 300. Todestage des ersten großen Dichters, der an
der modernen Welt und ihrer Stellung zum geistigen
Arbeiter gelitten hat, gedenken möchten. f615)
O^esus als Kind.
H Legende von Karl Nötiger.
Es war aber Jesus die Einsamkeit schon umgetan
wie ein Kleid, von allem Anfang an.
Die Stadt lag auf den: Hügel und sah nach zwei
Seiten in die Ebene hinaus: gen Norden und gen Süden.
Am Ausgang des Ortes, das letzte Haus der Straße
wars, da wohnten sie. Und dahinter fingen gleich die
Gärten an und dann kam der Wald. Und es war ein
Zimmerplatz hinter den: Haus, wo Josef Balken behaute,
Latten sägte, Tische hobelte und Särge zimmerte. Und
es war ein Rasenplatz vor dem Hause, wo Maria Wäsche
legte und bleichte und wo Jesus oft seine Tage und die
Morgen und die Abende verträumte und versann. Und
es war eine Wiese neben dem Hause mit einer Hecke
davor ....
Und es geschah an einem Frühlingstag, daß sie bei
der Morgenmahlzeit saßen: Joseph, Maria, Jesus und der
kleine dreijährige Jakobus. Sie saßen aber so am Tisch,
daß Jesus beim Essen nach draußen sehen mußte, aus
dem Fenster; Joseph saß ihm gegenüber, Maria saß zur
Seite, neben sich auf einem Böckchen den kleinen Jakob.
Und so aßen sie Suppe und Brot. Da kam ein Schmetter-
ling hereingeflogen und schwankte in zitterigem Flug
um den Tisch und über den Häuptern der Sitzenden hin.
Da legte Jesus seinen Löffel und das Brot hin, lächelte,
 
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