Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 26.1916

DOI Heft:
Heft 4
DOI Artikel:
Mahrholz, Werner: Der Dichter und die moderne Lebensordnung: Betrachtungen zu Cervantes' 300. Todestage
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.26490#0147

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Der Dichter und die moderne Lebensordnung.

sie moralische Erzählungen genannt/ so schreibt er in der
Vorrede, „und wenn du sie recht betrachtest, findet sich
wirklich keine darunter, aus welcher sich nicht irgendein
nützliches Vorbild entnehmen ließe." Gewiß, was er
an Tugenden und Lehren zu sagen hat, das ist im Grunde
meist ziemlich bürgerliche Moral: die passiven Tugenden
der Geduld, der Entsagung, der bloßen Anständigkeit
überwiegen bei weitem die aktiven Tugenden; aber es
fehlen doch auch nicht Aüge von Großmut, Hochherzig-
keit, von tätiger Liebe, von Stolz und Edelmut, so etwa
in der Geschichte von: großmütigen Liebhaber, besonders
aber in der Geschichte vom eifersüchtigen Ertremadurer:
dort überwindet sich ein reicher alter Mann im Tode dazu,
seiner jungen Frau, von der er sich betrogen glauben muß
und über deren scheinbaren Ehebruch er sich zu Tode
grämt, den scheinbaren Liebhaber als zweiten Mann zu
empfehlen und ihr sein Vermögen zu hinterlassen.
Deutlicher aber als in diesen und anderen Novellen spricht
der Moralist Cervantes sich in den: merkwürdigen Bericht
von dem Lizentiaten Vidriera d. h. Glasmann aus.
In dem ersten Teil der Erzählung berichtet Cervantes
von einem armen Studenten, der auf Kosten fremder
Leute studiert, dann Reisen macht, nach Italien, nach
Flandern und dann, mit reicher Menschenkenntnis, in
seine Heimat zurückkehrt, dort aber durch die Liebesmittel
einer mannstollen Frau in eine Krankheit verfällt, von
der er zwar genest, aber einen gestörten Verstand be-
hält: er bildet sich nämlich ein, aus Glas zu sein, ist aber
sonst bei gutem Verstände (man sieht hier wieder, wie im
Don Quichote einen Helden, der eine Narrheit hat,
aber doch vernünftiger als die moderne Welt ist; es ist
eben ein typischer Cervantesheld). Er zieht nun durch die
Lande und gibt auf jede Anrede eine witzige, schlagende
satirische Antwort. Mit allen möglichen Ständen kommt
er in Berührung und jeden: sagt er die Fehler seines
Standes. Er wird berühmt durch seine kluge Narrheit
und verdient viel. Als er aber geheilt wird und wieder
nach Madrid zieht, um dort als Rechtsanwalt seinen
Unterhalt zu finden, staunen ihn die Leute ob seiner
Genesung an. Er hält eine Anrede an das Volk: „Macht
nicht, daß ich als vernünftiger Mensch dasjenige verliere,
was ich als Verrückter erlangt habe, nämlich meinen
Unterhalt. Was ihr mich sonst an öffentlichen Plätzen
zu fragen pflegtet, das fragt mich jetzt in meiner Wohnung,
und ihr werdet sehen, daß derjenige, welcher euch aus
dem Stegreife und ohne Vorbedacht gut geantwortet
hat, euch noch besser antworten wird in voller Über-
legung." Allein er sieht sich in seinen Hoffnungen ge-
täuscht und so schließt die Erzählung mit dem bitteren
Seufzer: „ O Hof, der du die Hoffnungen kühner Be-
werber erweiterst und die bescheidener Klugen vernichtest.
Du sättigst mit Überfluß schamlose Gaukler und lässest ver-
nünftige Leute, die Schau: und Scheu fühlen, Hungers
sterben." Er geht nach Flandern, wird Soldat und stirbt
als geachteter Kriegsmann. Unsäglich bitter ist diese
Novelle von dem verrückten Klugen, der nur durch seine
Narrheit gefällt und als vernünftig Gewordener Hunger
leiden muß. Die ganze Verkehrtheit der modernen Welt
wird in diesem einen Bilde dargestellt, mit einer Bitter-
keit und Schärfe wie kaum jemals wieder. Alles ist hier
bitterste Satire geworden, was im Don Quichote sich

zum Teil in Humor auflöste; der Moralist hat über den
pessimistischen Lächler gesiegt.
IV.
Fielding bemerkt in seiner Vorrede zum „Josef
Andrews": „Die einzige Quelle des wahrhaft Lächer-
lichen scheint mir in der Affektion zu liegen." Fielding
war ein Schüler des Cervantes und er hat tatsächlich das
Wesentliche in der Kunstform des Meisters in dieser
Definition erfaßt. Der innere Grund von Cervantes'
Schaffen ist eine hochgespannte moralische Romantik,
welche sich in ihren: Kampf gegen die Widerstände der
Welt gleichsam überschlägt und nun teils in Bitterkeit
sich wandelt und dabei zur Satire wird, teils in Re-
signation ausläuft und dadurch zum Humor sich läutert.
Die Übersteigerung des Moralischen, welches sich aus
den: ganz verderbten Weltzustande, aus der Verein-
samung des edlen Menschen, aus der tiefen Wurzellosig-
keit des Dichters und jedes geistigen Arbeiters in der
modernen Welt ergab, führte teils zum erbitterten Kampf
gegen diese Welt, zur Satire, teils zum resignierten
Gehenlassen der Dinge, zum Humor. Augleich ergaben
sich aus dieser Grundeinstellung die beiden Möglichkeiten
der Sichtbarmachung für den Künstler Cervantes:
er schuf Halbnarren als seine Helden oder er legte seine
Weltbetrachtung den: Untermenschlichen, den Tieren in
den Mund. In beiden Fällen wirkt die Übersteigerung,
die Affektation, wie Fielding sagt, komisch und im bitteren
oder heiteren Gelächter, grimmig oder heiter befreiend.
Solange Cervantes dabei im Gebiet des Menschlichen
blieb, in: Don Quichote, im Lizentiaten Vidriera,
blieb für den Leser immer ein peinlicher Nest: daß die
Vertreter des Guten Narren sein mußten, und so er-
gab sich immer nur eine geteilte Wirkung: halb satirisch-
komisch, halb humoristisch, halb Weltverachtung und Welt-
ekel, halb freies Schweben des Geistes über dem Leben.
In dem Moment aber, wo sich die Handlung im Unter-
menschlichen abspielt, zwischen Tieren, erzielte der
Dichter eine rein humoristische Wirkung, das gelang ihm
aber in dem in jeder Beziehung merkwürdigen „Gespräch
zwischen Cipion und Berganza, Hunden des Auf-
erstehungshospitals" (in der Novelle „Die bezügliche
Heirat").
Awei Hunde sitzen des Nachts zusammen und sprechen
miteinander.
Cipion: Wenn wir sprechen, überschreiten wir die
Grenzmarken der Natur.
Berganza: Das ist wahr... und das Wunder wird
dadurch noch größer, daß wir nicht nur sprechen, sondern
einander Red und Antwort geben, wie wenn wir ver-
nünftige Wesen wären, da wir doch keine Vernunft be-
sitzen; denn das ist ja gerade der Unterschied zwischen
dem Tier und dem Menschen, daß der Mensch ein ver-
nünftiges Wesen und das Tier ein unvernünftiges ist."
So wundern die Hunde sich über sich selber und zeigen
zugleich damit die Kluft auf, welche sie von: Menschen-
wesen trennt, und doch sind sie in der nun folgenden Er-
zählung, in welcher Berganza seine Lebensgeschichte
mitteilt, die eigentlich vernünftigen, und das Menschen-
treiben erscheint vom Standpunkt ihrer einfachen Tier-
moral aus als das Verkehrte, Gemeine und Ver-
lZ5
 
Annotationen