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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 26.1916

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Heft 6
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Fischer, Max: Goethe und Napoleon
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Klein, Rudolf: Berliner Theaterwinter
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https://doi.org/10.11588/diglit.26490#0229

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Goethe und Napoleon.

erhörter Weg der Kraft, des unerbittlichen Willens, der
nie zaudernden Tat. Ein Weg über ungestüm bezwungene
Hindernisse, über kühl erdrosselte Leichen, über herrisch
zertretene Empfindungen. Ein Weg der Erfolge und
der Triumphe, des Ruhmes und des strahlenden Glücks.
Das war ein stolzer Weg, das war Leben, das war Fülle.
Was ist dagegen mein Leben? empfindet Goethe.
Bunte Zeiten in Leipzig, Seligkeit und Wehmut in
Sesenheim, dumpfe Jahre als Frankfurter Advokat,
wildes Glück und Leid in Wetzlar, ein Menschenalter lang
beschauliches Dasein in der thüringischen Kleinstadt.
Engster Bezirk der Wirksamkeit, täglich derselbe Kreis
der Menschen; nur gebrochen strahlt das volle Leben der
Weltgeschichte in unsere bürgerliche Gemächlichkeit; taten-
loses Leben ist es. Und ein neidvoll-bewundernder Blick
richtet sich auf die herrische Persönlichkeit des Korsen und die
flutende Welt und die weite Wirksamkeit, die er umspannt.
Napoleon aber bohrt seinen eindringenden Blick auf
den bescheidenen Besucher, prüfend wie ein Viehhändler
auf die Pferde des Marktes, wie ein weibsuchendcr Mann
auf die Dirnen des Freudenhauses. Wesen, Charakter,
Bedeutung dieses-Goethe — er will sie erfassen in rascher
Prüfung. Denn es drängt ihn, die Formel zu haben für
den Wert eines Menschen, auf daß er ihn einstellen kann
als nutzsamen Stein in das Spiel seiner Schachzüge, als
wohlermessenen Faktor in seine klugen Erwägungen.
Und während sein kalter Blick das Antlitz des Dichters zu
ergründen sucht, fühlt er sich seltsam getroffen von dem
Hellen und liefen Glanz seiner geheimnisbergenden
Augen. Welche Ruhe leuchtete in ihnen, welche Tiefe,
welche unentzauberten Mysterien. Und überhaupt: die
ruhiggefaßte, schlicht selbstsichere Art des Bürgers Goethe.
Glich der sechzigjährige Dichter nicht den vollendeten
Männern, die in wohlgeschliffenem Kelche ruhig des
Lebens und der Welt Geheimnisse bergen? Glich er
nicht einem Weisen? Und fast neidisch quillt des Im-
perators Blick in die wundersamen klaren Augen, die
den Herrscher der Völker aus dem Gleichgewicht zu reißen
drohten. Napoleon fühlt: dieser da hat Fülle und Ruhe
der Seele und sein Schicksal hält er in sicheren festen
Händen. Was bin ich? Dumpfer Ehrgeiz und blindes
Schicksal zwingen mich meinen vermessenen Weg. Mein
Dämon entpreßt mir mein Wollen, drängt mich zu Taten
und Schlachten, nötigt mir ein Leben auf ohne Rast und
Besinnung. Wieviel innerlicher, wieviel reicher, wie-
viel glücklicher, wieviel ragender, wieviel unvergäng-
licher ist Goethe. Ich aber, vor dem die Völker zittern,
bin selber Zitternder vor der unbegrstfcnen Woge des
Schicksals, nicht Herrschender, sondern Beherrschter seiner-
eigenen dämonischen Triebe.
Und als der Dichter stolz-bescheiden den Abschied
nimmt, da blickt ihm der große Imperator noch einmal
tief und einsaugend in die wundersamen Augen, und zu
Berthier und Daru, die hinter ihm stehen, sagt Napoleon
tief erschüttert dieses Wort: „Das ist ein Mann." ^639^
erliner Theaterwinter.
Es ist bezeichnend, daß die durchschlagendsten
Aufführungen des letzten Theaterwinters fast aus-
nahmslos, wie auch schon im Vorjahre, aus denr Schatze

der klassischen Literatur bestritten wurden. Daneben
erzielten dauernde Erfolge eigentlich nur der frühe Ibsen
mit „Kaiser und Galiläer" und „Peer Gynt" und selt-
samerweise Strindberg, der nun bei uns das Theater
zu erobern beginnt, während seine Lebensanschauung
doch eine derartig einseitige ist, daß die Wirkung un-
möglich von langer Dauer sein kann. Daß seine ehe-
pessimistischen Stücke uns dennoch lebendiger scheinen
als die Gesellschaftsdramen Ibsens, ist in dichterischen
Qualitäten zu suchen, die vergleichenderweise zu erläutern
hier zu weit führen würde.
Gleich zu Beginn des Theaterwinters fesselte uns
die Uraufführung von Molieres „Don Juan", einem in
Deutschland fast nie gespielten, wenig gekannten Stück.
Man hält es gemeinhin nicht für die beste Arbeit des
Franzosen. Doch wer auch mit solchen philologischen Ab-
wägungen das Theater betrat, fühlte bei den ersten
Sätzen, daß er es mit einem großen Dichter zu tun habe
und ihm köstliche Überraschungen bevorstanden. Die aus
dem Spanischen übernommene Fabel ist bekannt und
unterscheidet sich hier leicht von der Mozartschen Fassung.
Auf den ersten Blick haben wir es in der Titelfigur nut
dem erotischen Lüdrian zu tun, dem sexuellen Flatter-
fuß, der aus jeder Blüte den Honig saugt, jede knickt
und weitereilt: ein strafender Spiegel vom bürgerlichen
Dichter dem leichtherzigen Franzosenkönig vorgehalten;
eine Moralpauke, in der die bürgerliche Moral in komisch-
ster Form vom Kammerdiener vertreten wird, der sw
seinem Herrn ins Gesicht sagt, indem er sie an ihm
vorbei einem dritten Unbekannten zuspricht. Aber das
Stück ist doch noch mehr; denn wie der Kammerdiener
über die Moral, so philosophiert sein Herr über die
Unmoral. Er ist nicht nur ein Genüßling, sondern zu-
gleich ein Systematiker und nicht allein der sinnlichen
Lustempfindung, vielmehr, man möchte sagen, des
höheren Materialismus überhaupt. Dieser Don Juan
Molieres ist nicht nur der Frauenjäger, sondern zugleich
ein Atheist und Verächter aller nicht realisier- und zähl-
baren Dinge, und dazu ein Ritter in seiner Art, der sich
vor Tod und Teufel nicht fürchtet: so könnte man ihn
die Verkörperung des französischen Geistes jener großen
Tage nennen, seiner Vorzüge und seiner Grenzen. Man
möchte sagen: dieser philosophierende Don Juan, der
am Ende zur Hölle fährt, ist für Frankreich, was für uns
Faust ist. Und in dieser begrenzten Tiefe lag für den
Dichter zugleich die Unmöglichkeit, das Stück so vollendet
zu gestalten wie seine übrigen, die er dem Stoff ent-
sprechend ausprägen durfte, während sich hier der in
ihm bedingte klaffende Riß auftut, so daß der Ernst,
selbst wo er erstrebt, vom naiven Hörer nicht sogleich
begriffen wird. Die packendste dieser Szenen ist wohl
die mit dem Bettler, dem der kalte Zyniker nicht für
einen Louisdor einen Fluch abzwingt und, erstaunt und
im Innersten vom Wesen einer höheren Welt berührt,
ihm dann aus Menschlichkeit das Gold zuwirft.
Der ganze Unterschied des Mangels unserer neueren
Dichtung im Verhältnis zur großen der Vergangenheit
wurde so recht klar, wenn man nach diesem „Don Juan"
bei Reinhardt eine Neueinstudierung von Hauptmanns
„College Crampton" sah. Der Crampton gehört zu den
gelungeneren Arbeiten des schlesischen Dichters, doch


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