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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 26.1916

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Heft 2
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Zoff, Otto: Rückblick auf den Naturalismus
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Lissauer, Ernst: Verschollene Gedichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.26490#0081

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Rückblick auf den Naturalismus.

Er findet die Trunksucht nicht mehr befehdenswcrt, er
findet sie vielmehr in gleichem Maße notwendig wie die
Treue, die Elternliebe, die Freundschaft. Er meint, daß
sich Leute besaufen müßten, damit durch Branntwein-
brennerei und Brauhäuser Arbeiter angestellt, Architekten
beschäftigt, eine Erhöhung des Geldumsatzes bewerk-
stelligt werde.
Er ist vollends indifferent; und wir wollen ihn auch
den Indifferentsten nennen.
Man charakterisiert ihn am besten, wenn man ihn
selbst zu Wort kommen läßt. Einer seiner jüngeren Ver-
treter, Mar Brod, hat schon in seinem ersten Buch, in
„Tod den Toten", den Knaben Lo sagen lassen:
„Ich halte nun alles für gleichwertig, man braucht
nirgends eine besondere Tonart anzuschlagen. Jede
Eigenschaft des Menschen ist menschlich, das ist nun
meine Weisheit. Der Märtyrer, der sich für seine Idee
den Bauch aufschlitzen läßt, und König Belaules, der
täglich zehn junge Ehemänner schlachten ließ, um sich
in der darauffolgenden Nacht mit ihren Frauen Stunde
für Stunde abwechselnd zu vergnügen, haben beide
nur im Drang ihrer Gefühle gehandelt. Wenn ich jeden
auf die Wagschale lege, so steht das Zünglein auf Null."
Ein Programm, das die ganze Richtung in sich ein-
schließt. Weder ist die Tugend bewunderungswürdig,
noch ist das Laster verabscheuenswert. Beide sind im
gleichen Maß Faktoren zur Betriebssetzung und Erhaltung
des Lebens, aus diesem Grunde sind beide gleichwertig
und notwendig.
Der Jndifferentist kommt aus dem Naturalisten, er
fundiert noch in diesem. Er ist sein Ausläufer, ohne im
Wesen mit ihm noch eine Gemeinsamkeit zu besitzen. Aber
er ist noch nicht die letzte Endung des Naturalisten, denn
er kann sich selbst noch übersteigen.
Denn immerhin ist ihm das Leben als solches noch
ein Positivum. Wie aber, wenn dieses Leben selbst kein
Positivum wäre, wenn es ebenso gleichgültig wäre, wie
alle seine Formen? Etwa nur ein Spiel oder eine Laune?
Oder gar ein Traum, den ein absurdes Wesen träumt?
Und wir alle und alles, was sich regt, nur ein vergehender,
vielleicht ganz und gar unsinniger Traum?
Dann wäre eben alles gleichgültig. Nichts wäre not-
wendig. Und wenn sich in diesem Augenblick alles auf
den Kopf stellte, das Resultat der Welt bliebe gleich;
dasselbe Nichts.
Vor diesem Hyperindifferentisten — es sei nur auf
Jules Laforgue als einen brillanten Vertreter hinge-
wiesen — sind alle Dinge durchsichtig: er durchschaut sie
und erblickt hinter ihnen nur den Zufall. Die Dinge sind
ihm Räder eines grandiosen Betriebes; aber dieser Be-
trieb ist ein Nichts. Wie Spielzeug ruht alles auf einer
einzigen Hand, der Rodinschen Hand Gottes, aber ist
dieser Gott nicht selbst wieder ein Phantom?
Hier haben sich die Möglichkeiten des Denkens, hier
haben sich Intellekt und Skeptizismus erschöpft. Dieser
Typ ist letztes Ertrem.
Aber er, der sich in die ganze Welt stürzt, weil ihm die
ganze Welt ein zwischen Positiv und Negativ schwebendes
Nichts bedeutet, — er, der alles auf sich nimmt, weil es
keine Schwere hat, und der alles von sich wirft, weil es
leicht ist, — er, der das Universum in seine Hirnzelle

projiziert hat, aber schließlich an diese seine Hirnzelle
nicht glaubt, — er stellt einen neuen Erschöpfungszustand
an irdischer Aktivität dar. Er ist nur eine Variation des
Romantikers.
Er ist die Erschöpfung des Naturalisten, wie der
Romantiker die Erschöpfung des Klassikers ist. Beide
fliehen den Kampf der Erde: der eine, indem er von
allem Seienden flieht, der andere, indem er sich von
allem Seienden überschütten läßt.
Weil beide den Anforderungen ihres Lebens nicht ge-
wachsen sind, erklären sie es beide als nichtig.
Es kann aber auch nicht anders sein: Klassizismus und
Naturalismus sind Hochspannungen. Ihnen folgt die
Ebbe aller Energien, ihnen folgt die passive Welt-
einstellung.
Als der Hyper-Jndifferentist auf den Plan getreten
war, hatte sich mit ihm der letzte Ausläufer des Naturalis-
mus eingestellt. Von ihm aus geht keine Entwicklung
mehr weiter. Ihm folgt nur der neue Umsturz. f581Z
Otto Zoff.
^Verschollene Gedichte.
Gesammelt von Ernst Lissauer.
Inschrift über der Tür der Wasserkunst im Schloß-
hof zu Merseburg (Anuo 1758).
So faßt die Kunst in Blech und Röhren
Des Wassers eingeschränkte Fluth,
Ein Druckwerk muß das Steigen mehren,
Das doppelt treibt und niemals ruht.
Diß, Theurer Heinrich, ist Dein Eigen,
Du baust es neu und nutzbar auf:
Gott lasse deiner Jahre Lauf
Wie diese Kunst beständig steigen.
Dies merkwürdige Gedicht, das ich in dem Buch
von Heinrich Bergner über Merseburg abgedruckt finde,
ist sicherlich mit den Eigentümlichkeiten seiner Zeit be-
haftet: eine gewisse trockene Lebhaftigkeit, die biedere
Anrede „theurer Heinrich". Aber mancherlei gibt ihm
Reiz und Wert: der seltsam starke Ton des Anfangs,
in dem — nicht Stoffliches ist gemeint — der große
rhythmische Gestus aus dem zweiten Teil des „Faust"
vorspukt; die Kürze und Prägnanz, mit der, schon 1738,
ein technisches Gerät geschildert wird, und die rokoko-
leichte Grazie des anmutigen Gleichnisses.
Inschrift am Hause „Zum Felsen" in Stein
am Rhein.
Weh, wenn der Fels zu Tale niedersaust
Und hinterher der Nunsen Wasser rauscht,
Es ist des Älplers größter Schrecken
Der Felsensturz ins Talesbecken.
Erst ward der Fels, und nachher Stein und Sande,
Es wühlen ihn die Wasser in die niedren Lande,
Auf Gletschern reitet langsam er zu Tale,
Er hemmt des Wildbachs Lauf in seinem Pfade,

sy
 
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