Rückblick auf den Naturalismus.
gewesenen Existenz festzustellen. Es handelt sich nicht
mehr um die Frage: wie war er? Sondern um die
andere: was war er?
Dieser letzte Urgrund des Naturalismus, man könnte
sagen: sein primärster Antrieb ist nicht — wie man gern
geglaubt hat — der rein künstlerische Wille, jede Form
des Lebens gestalten zu wollen. Das Heranziehen jeder
Möglichkeit, das Nichtzurückschrecken vor jeder Äußerung
des Seins ist vielmehr nur eine notwendige Konsequenz
eines vorhergehenden seelischen Antriebs: einer hoch-
gespannten und neuen Moralität.
Diese Moralität wird vielleicht plastischer zu um-
schreiben sein, wenn man sie ins Verhältnis zur Welt-
anschauung früherer Epochen setzt. Der Klassizismus, von
dem unsere neuzeitliche Kunst ausgeht, könnte eine
moralische Kunst lcat exocüeu genannt werden. Er teilt
das Existierende unbeirrbar in die zwei Hälften des Guten
und Bösen. Ihm ist (wobei er auf die Fundamente der
Antike baut) das Leben nichts anderes, als der ewige
oder ewig scheinende Krieg der beiden Hälften gegen-
einander, wobei ihm das Ziel dieses Kampfes: der Sieg
und die schließliche Alleinherrschaft des guten Prinzips
zweifellos fcstgestellt ist. Er stellt sich nun die Frage: wie
gelangt das Individuum zum letzten Quell des Guten?
Die Antwort (und in ihr ist sein Charakter eingeschlossen):
indem es in sich alle Energien des Guten stärkt.
Auf eine solche Anspannung aller menschlichen Kampf-
energien folgt immer eine Epoche der Ermüdung. Ob
diese Epoche nun Romantik oder Barock oder Hellenismus
genannt sei: ihr Wesen wird durch ein Gefühl der Nutz-
losigkeit alles menschlichen Strebens gekennzeichnet. Dem
Romantiker erscheint die Schwierigkeit der irdischen Aus-
wirkung unbezwingbar, und so flüchtet er aus dem Ir-
dischen hinweg. Resigniert, skeptisch oder gar zynisch
läßt er sein Leben fallen und flüchtet sich in eine Sehn-
sucht nach dem Unirdischen. Nur dort scheint ihm die
Erlösung zu winken. Seiner Lebensanschauung fehlt die
eigentlichste Moralität: der tätige, sich selbst einsetzende
Wille zum Guten.
Es ist nicht anders möglich: eine solche Generation
muß von neuem durch ihr radikales Gegenteil abgelöst
werden. Der Meltflucht folgt eine neue Weltbejahung.
Allseits erwacht ein geradezu dringlicher Realismus, ein
Realismus, der sich mit einer zähen Verbissenheit an alle
Äußerungen des Lebens klammert. Dieses erscheint
wieder als positiver Besitz. Und wie der Klassizist trennt
der Realist wieder das Seiende in Gut und Böse, wird
er sich des ewigen Kampfes bewußt, hält er die schließ-
liche Alleinherrschaft des guten Prinzips als feststehend.
Auf die Frage aber: wie gelange ich zum Guten? gibt
er sich eine Antwort, die von der des Klassizisten durch
eine Nuance verschieden ist, zwar nur durch eine Nuance,
aber in ihr liegt der ganze Wesensunterschied. Er ant-
wortet nicht: indem ich die guten Energien in mir stärke.
Sondern er antwortet: indem ich die bösen Energien in
mir schwäche.
Menschlich genommen, mögen diese beiden Anschauun-
gen in eine zusammenfallen, mögen beide Wege ein und
derselbe sein. Aber künstlerisch genommen, bedeuten sie
konträre Pole. Beide wollen mit ihrem Werk für dasselbe
zeugen: für die Alleingültigkeit des Guten, des Positiven,
des ewigen Gottes. Aber die Methoden, die sie ein-
schlagen, sind verschieden. Der Naturalist meint: Sollt
ihr begreifen, daß der Verleumder nicht zu Gott kommt,
so müßt ihr es vor euch leibhaftig erschauen, wie man
durch Verleumdung von Gott fortkommt. Während der
Klassizist uns den Nichtverleumder zeigt, der vor Gott
kommt.
Daraus ist die Unterscheidung zu erklären, welche im
Populären schon seit jeher zwischen beiden gezogen
wurde, indem man beim Klassiker die Bevorzugung des
Schönen, beim Naturalisten die Bevorzugung des Häß-
lichen betont hat. Eine Unterscheidung, die, solange sie
das Schöne oder Häßliche als Kunstmittel und nicht als
Kunstzweck meint, unbedingt richtig ist. Falsch ist es aber
zu glauben, der Naturalist liebe das Häßliche: vielmehr
stellt er es nur dar, um es gerade dadurch als häßlich, also
als verlöschenswert zu erweisen. (Man denke nur an Aola
oder an den frühen Hauptmann.)
Der Klassiker schrieb das Drama Othello, der Natura-
list hätte das Drama Jago geschrieben. Der Klassiker
schrieb das Drama Wilhelm Tell, der Naturalist hätte
das Drama Geßler geschrieben.
Götzens Schicksal liegt in seiner Stärke, Florian
Geyers Schicksal in seiner Schwäche.
II.
Jede naturalistische Epoche hat ihren Kreis von be-
stimmten Anfeindungsobjekten. Diese werden von allen
Seiten und mit allen Mitteln befehdet. Bis sich schließlich
die kämpferischen Energien erschöpft haben oder bis
andere bürgerliche Organisationen die Fortsetzung des
Kampfes übernommen haben. (Wie ja Gerhard Haupt-
manns Fehde gegen den Alkohol schließlich vom Volke
selbst weiter ausgekämpft wird.)
Eine nächste Generation findet die Probleme der
Zeit künstlerisch ausgekämpft; sie kann sie nicht auf-
nehmen, ohne sie zu wiederholen, womit aber eine Wir-
kung nicht mehr zu erzielen wäre.
Nun sieht zwar der Vertreter dieser nächsten Genera-
tion ebenso wie der Naturalist die vielfältigen und un-
zähligen Formen des Lebens vor sich, die guten und
bösen, lichten und dunklen, gesunden und kranken, männ-
lichen und weiblichen, aber er sieht sie alle aktiv und
weiterproduzierend ineinandergreifen, sieht aus allen
gleicherweise neues Leben aufschießen, und es drängt sich
ihm, gewissermaßen zum erstenmal, die Frage nach der
Ursache dieses ewigen Dualismus auf. Er findet keine.
Immer tiefer in das große Triebwerk der Welt eindrin-
gend, sieht er, wie aus dem Dunkel erst das Licht steigt,
wie das Böse gleicherweise schöpferisch Leben schenkt wie
das Gute. Ihm erschließt sich die Erkenntnis: Gut und
Böse existieren nicht; nur das Leben allein ist. Dem
Leben sind alle Formen gleichwertig.
Dieser neue Typ des Künstlers, aus der moralischen
Erschöpfung des Naturalisten und aus der immer ver-
tierteren Fähigkeit, alle Lebensformen erfassen zu
können, erklärbar, hat eigentlich mit dem Naturalismus
nichts mehr zu tun. Denn ihm ist das Böse nicht mehr
nur Objekt der Kunst, sondern Objekt seines Lebens
selbst. (Denn eigentlich existiert es ihm ja als Böses
nicht mehr.)
gewesenen Existenz festzustellen. Es handelt sich nicht
mehr um die Frage: wie war er? Sondern um die
andere: was war er?
Dieser letzte Urgrund des Naturalismus, man könnte
sagen: sein primärster Antrieb ist nicht — wie man gern
geglaubt hat — der rein künstlerische Wille, jede Form
des Lebens gestalten zu wollen. Das Heranziehen jeder
Möglichkeit, das Nichtzurückschrecken vor jeder Äußerung
des Seins ist vielmehr nur eine notwendige Konsequenz
eines vorhergehenden seelischen Antriebs: einer hoch-
gespannten und neuen Moralität.
Diese Moralität wird vielleicht plastischer zu um-
schreiben sein, wenn man sie ins Verhältnis zur Welt-
anschauung früherer Epochen setzt. Der Klassizismus, von
dem unsere neuzeitliche Kunst ausgeht, könnte eine
moralische Kunst lcat exocüeu genannt werden. Er teilt
das Existierende unbeirrbar in die zwei Hälften des Guten
und Bösen. Ihm ist (wobei er auf die Fundamente der
Antike baut) das Leben nichts anderes, als der ewige
oder ewig scheinende Krieg der beiden Hälften gegen-
einander, wobei ihm das Ziel dieses Kampfes: der Sieg
und die schließliche Alleinherrschaft des guten Prinzips
zweifellos fcstgestellt ist. Er stellt sich nun die Frage: wie
gelangt das Individuum zum letzten Quell des Guten?
Die Antwort (und in ihr ist sein Charakter eingeschlossen):
indem es in sich alle Energien des Guten stärkt.
Auf eine solche Anspannung aller menschlichen Kampf-
energien folgt immer eine Epoche der Ermüdung. Ob
diese Epoche nun Romantik oder Barock oder Hellenismus
genannt sei: ihr Wesen wird durch ein Gefühl der Nutz-
losigkeit alles menschlichen Strebens gekennzeichnet. Dem
Romantiker erscheint die Schwierigkeit der irdischen Aus-
wirkung unbezwingbar, und so flüchtet er aus dem Ir-
dischen hinweg. Resigniert, skeptisch oder gar zynisch
läßt er sein Leben fallen und flüchtet sich in eine Sehn-
sucht nach dem Unirdischen. Nur dort scheint ihm die
Erlösung zu winken. Seiner Lebensanschauung fehlt die
eigentlichste Moralität: der tätige, sich selbst einsetzende
Wille zum Guten.
Es ist nicht anders möglich: eine solche Generation
muß von neuem durch ihr radikales Gegenteil abgelöst
werden. Der Meltflucht folgt eine neue Weltbejahung.
Allseits erwacht ein geradezu dringlicher Realismus, ein
Realismus, der sich mit einer zähen Verbissenheit an alle
Äußerungen des Lebens klammert. Dieses erscheint
wieder als positiver Besitz. Und wie der Klassizist trennt
der Realist wieder das Seiende in Gut und Böse, wird
er sich des ewigen Kampfes bewußt, hält er die schließ-
liche Alleinherrschaft des guten Prinzips als feststehend.
Auf die Frage aber: wie gelange ich zum Guten? gibt
er sich eine Antwort, die von der des Klassizisten durch
eine Nuance verschieden ist, zwar nur durch eine Nuance,
aber in ihr liegt der ganze Wesensunterschied. Er ant-
wortet nicht: indem ich die guten Energien in mir stärke.
Sondern er antwortet: indem ich die bösen Energien in
mir schwäche.
Menschlich genommen, mögen diese beiden Anschauun-
gen in eine zusammenfallen, mögen beide Wege ein und
derselbe sein. Aber künstlerisch genommen, bedeuten sie
konträre Pole. Beide wollen mit ihrem Werk für dasselbe
zeugen: für die Alleingültigkeit des Guten, des Positiven,
des ewigen Gottes. Aber die Methoden, die sie ein-
schlagen, sind verschieden. Der Naturalist meint: Sollt
ihr begreifen, daß der Verleumder nicht zu Gott kommt,
so müßt ihr es vor euch leibhaftig erschauen, wie man
durch Verleumdung von Gott fortkommt. Während der
Klassizist uns den Nichtverleumder zeigt, der vor Gott
kommt.
Daraus ist die Unterscheidung zu erklären, welche im
Populären schon seit jeher zwischen beiden gezogen
wurde, indem man beim Klassiker die Bevorzugung des
Schönen, beim Naturalisten die Bevorzugung des Häß-
lichen betont hat. Eine Unterscheidung, die, solange sie
das Schöne oder Häßliche als Kunstmittel und nicht als
Kunstzweck meint, unbedingt richtig ist. Falsch ist es aber
zu glauben, der Naturalist liebe das Häßliche: vielmehr
stellt er es nur dar, um es gerade dadurch als häßlich, also
als verlöschenswert zu erweisen. (Man denke nur an Aola
oder an den frühen Hauptmann.)
Der Klassiker schrieb das Drama Othello, der Natura-
list hätte das Drama Jago geschrieben. Der Klassiker
schrieb das Drama Wilhelm Tell, der Naturalist hätte
das Drama Geßler geschrieben.
Götzens Schicksal liegt in seiner Stärke, Florian
Geyers Schicksal in seiner Schwäche.
II.
Jede naturalistische Epoche hat ihren Kreis von be-
stimmten Anfeindungsobjekten. Diese werden von allen
Seiten und mit allen Mitteln befehdet. Bis sich schließlich
die kämpferischen Energien erschöpft haben oder bis
andere bürgerliche Organisationen die Fortsetzung des
Kampfes übernommen haben. (Wie ja Gerhard Haupt-
manns Fehde gegen den Alkohol schließlich vom Volke
selbst weiter ausgekämpft wird.)
Eine nächste Generation findet die Probleme der
Zeit künstlerisch ausgekämpft; sie kann sie nicht auf-
nehmen, ohne sie zu wiederholen, womit aber eine Wir-
kung nicht mehr zu erzielen wäre.
Nun sieht zwar der Vertreter dieser nächsten Genera-
tion ebenso wie der Naturalist die vielfältigen und un-
zähligen Formen des Lebens vor sich, die guten und
bösen, lichten und dunklen, gesunden und kranken, männ-
lichen und weiblichen, aber er sieht sie alle aktiv und
weiterproduzierend ineinandergreifen, sieht aus allen
gleicherweise neues Leben aufschießen, und es drängt sich
ihm, gewissermaßen zum erstenmal, die Frage nach der
Ursache dieses ewigen Dualismus auf. Er findet keine.
Immer tiefer in das große Triebwerk der Welt eindrin-
gend, sieht er, wie aus dem Dunkel erst das Licht steigt,
wie das Böse gleicherweise schöpferisch Leben schenkt wie
das Gute. Ihm erschließt sich die Erkenntnis: Gut und
Böse existieren nicht; nur das Leben allein ist. Dem
Leben sind alle Formen gleichwertig.
Dieser neue Typ des Künstlers, aus der moralischen
Erschöpfung des Naturalisten und aus der immer ver-
tierteren Fähigkeit, alle Lebensformen erfassen zu
können, erklärbar, hat eigentlich mit dem Naturalismus
nichts mehr zu tun. Denn ihm ist das Böse nicht mehr
nur Objekt der Kunst, sondern Objekt seines Lebens
selbst. (Denn eigentlich existiert es ihm ja als Böses
nicht mehr.)