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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 26.1916

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Heft 3
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Schäfer, Wilhelm: Naturalismus, Epik und Paul Ernst
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Ernst, Paul: Die Briefe des Verstorbenen: eine Spitzbubengeschichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.26490#0107

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reinste Form der Epik, in die Sage gehoben sind. Das
Höchste, was die Novelle leisten kann, ist mit ihnen voll-
bracht; ihre Neuigkeit zeigt sich brauchbar, in den ewigen
Schatz der Sage einzugehen. f607ji
W. Schäfer.
ie Briefe des Verstorbenen.
Eine Spitzbubengeschichte von Paul Ernst.
Lange Rübe hatte in Rom einen Hauptschlag vor-
bereitet; leider mißglückte der durch die Torheit eines
Frauenzimmers.
Er hatte die Bekanntschaft einer vornehmen kinder-
losen Witwe gemacht, welche in dem Alter war, das
man heute das gefährliche nennt. Natürlich hatte er der
Dame nicht mitgeteilt, was sein eigentlicher Beruf ist;
er hatte mit schwermütiger Miene von Unglücksfällen in
der Familie gesprochen, von politischen Verfolgungen,
von Überzeugungen, auf deren Altar man sein Lebens-
glück zum Opfer bringe, und diese Andeutungen hatten
der Witwe genügt, um ihr Geschick ihm anzuvertrauen,
denn wahrscheinlich sagte sie sich, daß Lange Rübe erst
fünfundzwanzig Jahre alt war, schlank und groß ge-
wachsen, eine angenehme Gesichtsbildung und kühne
Augen hatte. Da ihre Familie natürlich gegen eine neue
Heirat gewesen wäre, so hatte sie mit Langer Rübe eine
heimliche Flucht verabredet. Lange Rübe hatte einen
Wagen vor Porta Salaria bestellt, ihr Zeit und Ort genau
angegeben und ihr aufgetragen, sie solle das Kostbarste,
das sie habe, mitbringen. Zur bestimmten Zeit war die
Dame ohne jede Verspätung wirklich gekommen und
hatte Langer Rübe ein großes Paket übergeben; da
Lange Rübe das Paket gleich bekam, so brauchte er die
Dame nicht mitzunehmen; er hatte sich allein in den
Wagen gesetzt und war abgefahren, indessen die erstaunte
Dame wieder nach Rom hinein hatte gehen müssen, wo
sie sich dann bei ihrem Neffen bitter über Lange Rübe
beklagte.
Als er aber das Paket geöffnet, da hatte er in einem
kostbaren Kästchen nicht etwa Geld und Schmuck ge-
funden, sondern nur die Liebesbriefe des verstorbenen
Gatten der Dame. Man kann sich denken, daß das ein
Verlust für ihn gewesen war; denn zwei Wochen lang
hatte er immer an der Dame gearbeitet und nichts
anderes verdient, hatte Unkosten für Blumen, einen
feinen Anzug, zuletzt noch für den Wagen gehabt, den
er hatte vorher bezahlen müssen, weil der Wagenverleiher
ihn kannte; und nun waren die wertlosen Briefe das
ganze Ergebnis.
Er hatte das Paket wieder zugeschnürt und in kurzer
Zeit, wenn auch nicht gerade einen neuen Plan, so doch
den Anfang zu einem solchen ins Auge gefaßt. Wagen
und Wechselpferde waren bis Neapel bezahlt; er hatte
einen sehr feinen und kostbaren Anzug auf dem Leibe
und einen, wenn auch nur mit Steinen angefüllten,
großen Koffer auf dem Rückteil des Wagens aufgeschnallt,
dann noch das kostbare Kästchen im Wagen; so hatte er
denn beschlossen, nach Neapel weiter zu fahren, dort an-
gemessen aufzutreten und zu sehen, was das Glück ihm
zuführen werde. Das hatte er getan und sitzt nun in

Die Briefe des Verstorbenen.
dem vornehmsten Gasthaus Neapels in einem schönen
Zimmer.
Messer Molinari, der Polizeihauptmann von Neapel,
unterhält natürlich eine sehr enge Verbindung mit der
Kamorra, und man kann eigentlich sagen, daß er selber
Kamorrist ist. Aber, wie man weiß, kommen da oft
Konflikte der Pflichten. Er hatte nicht anders gekonnt,
als eine der hervorragendsten Personen der Kamorra fest-
zunehmen; begreiflicherweise sehen die Genossen eine
solche Notwendigkeit nie ein, denn im Grunde ist es
ihnen ja gleichgültig, ob der Polizeihauptmann sein Amt
verliert, weil sie sich mit seinem Nachfolger ja auch schon
vertragen werden. Kurz und gut, die Kamorra hat ge-
schworen, den geopferten Genossen, denn er wurde ge-
hängt, an Messer Molinari zu rächen, und Messer Molinari
ist natürlich in tausend Ängsten. Das dient zur Erklärung
dafür, daß Lange Rübe ungestört in Neapel arbeiten
kann, denn unter gewöhnlichen Verhältnissen würde es
sich die Kamorra ja schön verbitten, wenn ein fremder
Gauner in Neapel Geschäfte machen wollte. Die Kamorra
begünstigt sein Vorhaben sogar. Ein Herr, den Lange
Rübe nicht kennt, besucht ihn auf seinem Zimmer und
erkundigt sich vorsichtig, ob er vielleicht der erwartete
Geheiminspektor der Polizei sei, der bei allen Beamten
Nachsuchungen halten soll, und bringt Lange Rübe da-
durch auf einen Gedanken; und dem Messer Molinari
wird von Freunden mitgeteilt, ein Geheiminspektor sei
gekommen, welcher da und da wohne und schon geäußert
habe, den Hauptmann Molinari werde er besonders aufs
Korn nehmen.
Man kann sich denken, daß die Sorgen wegen der
Mißstimmung der Kamorra und wegen des Inspektors
den guten Messer Molinari, der gewöhnlich heiter und
aufgeräumt ist, recht nachdenklich machen. Die schöne
Lucia, seine Tochter, bemerkt seine trübe Stimmung und
sucht ihn zu trösten. Die schöne Lucia ist eine gewandte
Person und hat ihrem Vater schon oft geholfen, und es
gibt Leute, welche sie für klüger halten wie den Vater.
Die schöne Lucia also tröstet den Messer Molinari und
erforscht seine Bekümmernisse; wie er ihr alles erzählt
hat, denkt sie eine Weile nach, und dann erklärt sie: „Mit
der Kamorra mußt du allein fertig werden, sie bezahlt
dir übrigens wenig genug, du hast Familie und mußt an
die Zukunft deiner Kinder denken; aber den Inspektor
will ich auf mich nehmen." Der Inspektor war Messer
Molinaris größte Sorge gewesen, denn die Kamorra
brauchte ihn schließlich ebenso, wie er sie; und so überläßt
er denn erfreut seiner Tochter, wie sie den Inspektor
behandeln will.
Also die schöne Lucia macht sich auf den Weg und
besucht Lange Rübe in seinem Gasthof.
Lange Rübe stellt den Inspektor mit großem Anstand
vor und findet sich schnell in die Lage mit der schönen
Lucia. Er findet sich zu schnell. Frauen haben einen
Scharfblick, der uns Männern oft abgeht; sie merkt bald,
daß Lange Rübe viel zu klug ist, um ein Beamter zu sein.
Wir wollen nicht Einzelheiten aus ihrem Gespräch geben,
denn die schöne Lucia ist wirklich schön, und Lange Rübe
ist ein stattlicher junger Mann, in den sich ein kluges
junges Mädchen ohne Vorurteile schon verlieben kann.
Kurz und gut, Lucia ging um zu fangen und fängt sich


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