Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 26.1916

DOI Heft:
Heft 3
DOI Artikel:
Schäfer, Wilhelm: Naturalismus, Epik und Paul Ernst
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.26490#0106

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Naturalismus, Epik und Paul Ernst.

springen oder sich sonst selber daneben zur Schau stellen
wollte, wir würden uns von ihm belästigt finden; denn
alles, was wir von ihm verlangen, ist dies, daß er Bescheid
über den Wert des Schicksals weiß; und darum, je schwie-
riger dessen Wirrnisse werden, um so bestimmter wollen
wir seiner kundigen Führerschaft versichert sein.
Kundigkeit und angemessene Haltung verlangen wir
also vom Erzähler, darum ist die Chronik sein Stil, wie
die Sage von einem Begebnis seine Aufgabe ist. Das
schöne Wort verlangt aufs bestimmteste, daß sein Begeb-
nis des allgemeinen Sagens wert sein muß: nicht von
dieser oder jener traurigen, rührsamen oder lustigen Ab-
sonderlichkeit hat er zu berichten, sondern das Bedeutende,
will sagen das dem gemeinsamen Menschendasein Sinnbild-
liche, das Schicksalsgemäße daran, wie es das sogenannte
Nationalepos (Ilias, Nibelungen), die Helden- und Göt-
tersage in der höchsten Steigerung zeigen. Erst, wo sich
irgendein Stück Mythos — und sei es noch so winzig —
in einer Begebenheit verdichtet, fängt also die epische
Aufgabe an; und je nach dieser mythischen Bedeutung hat
sich die Haltung des Erzählers einzurichten. In der reinen
Sage wird er nur sagender Mund, in der langen Wan-
derung des Romans kann er seine Meinung und Er-
griffenheit unmerklich einflechten, aber auch hier wird
das Goethesche: Bilde, Künstler, rede nicht, sein Wert-
messer bleiben.
So betrachtet, ragt der Kleistsche Kohlhaas von aller
neueren Erzählerkunst der Deutschen am höchsten in
die Sagenluft hinauf, während Gottfried Keller wohl das
breiteste Ausmaß dessen darstellt, was sich ein Künstler
zu reden in der Epik gestatten kann. Die Chronik bleibt
bei ihm gewissermaßen in der bürgerlichen Form der
Erzählung, wobei wir den Erzähler selber selten vergessen,
ja oft nut Entzücken wahrnehmen als den Führer, der
nicht nur zu berichten, sondern zu deuten, ja zu urteilen
weiß; die entscheidende Eigenschaft aber, der zuliebe
wir ihm die Verdrängung seiner Persönlichkeit gestatten,
ist sein Humor, das heißt die Weisheit, mit der ein Be-
gebnis des Alltags durchleuchtet und in eine Bedeutung
gehoben wird. Daß aber auch dem Humor seine Grenzen
gesetzt sind, das etwa tut uns Fontane in seinen Ro-
manen dar, darin sich der Humor des Chronisten unmerk-
lich in Spott verwandelt; so diskret er ist, und so sehr die
Persönlichkeit des Erzählers Fontane dem Erzähler
Keller gewachsen scheint: ganz vermögen wir ihm die
Überschreitung seiner Führerrolle nicht zu gestatten;
aus den: Erzähler ist der Causeur, der Plauderer ge-
worden, mit dem wir nun schon selber in Zwiesprache
geraten, also aus der Epik in die Unterhaltung hinaus-
treten. *
*
Paul Ernst als Epiker hat keinen Humor; er ist nach
seinem eigenen Geständnis zur Erzählung nur aus
einem Notbehelf geschritten, um „in der leichteren Form
der Novelle" das zu erreichen, was er im Drama noch
nicht vermochte, die „geheimnisvolle Verbindung von
Schicksal und Wesen des Helden". Daß er dabei zur
Novelle, nicht zum Roman kam, war eine Selbstver-
ständlichkeit, weil die Novelle diejenige epische Form
ist, in der sich ein Schicksal — wie im Drama — nicht im
Wachstum, sondern in der Entladung offenbart. Damit

stand er als Epiker von vornherein in der reinsten Vor-
stufe zur Sage, der die Novelle — wie der Name sagt —
eine Neuigkeit zubringen will, in der Hoffnung, daß sie
sich vielleicht für den Dauerschatz der Epik als brauchbar
erweisen möge. Aber als er mit dieser Absicht in die
deutsche Literatur kam, war die gerade in der hitzigsten
Zustandsschilderung begriffen, und verstand seine kühle
Sachlichkeit nicht. Er versuchte sich mit den Tafelbild-
meistern der epischen Kunst — gegenüber dem Danteschen
Fresko — den alten Italienern zu rechtfertigen und
brachte seine entzückende Folge altitalienischer Novellen
in meisterlicher Übersetzung heraus, aber auch das brachte
seiner Absicht kein breiteres Verständnis. Soweit seine
erzählenden Genossen sich der naturalistischen Zustands-
schilderung entschlagen hatten, waren Keller (bei den
Süddeutschen) und Fontane (bei Thomas Mann) ihre
Meister geworden: Humor und Geistreichheit des Er-
zählers standen vor der epischen Sache, die er wollte.
Und daß gerade diese Sachlichkeit, also ein epischer Vor-
zug hohen Grades, zunächst seiner Gunst und Wirkung
hindernd im Weg stand, bewies der Mißerfolg, den ein
so beliebter Erzähler wie Jakob Wassermann mit seinen
entzückenden drei Novellen „Die Schwestern" gleich-
zeitig mit ihm erlebte.
Er hat nun drei Sammlungen von Novellen heraus-
gebracht „Die Prinzessin des Ostens", „Der Tod des
Cosimo" und „Die Hochzeit" und er ist auf dem Weg
zur reinen Form der Epik immer weiter von dem Na-
turalismus unserer Tage abgegangen, bis zur Destil-
lation seiner Absichten. Er ist dadurch als Epiker ein
Gegenbild zu Adolf Hoelzel, dem Malmeister in Stutt-
gart geworden, der sich mit seinen Bildabsichten bis in
die Abstraktion versteigt, um ganz von dem Naturaus-
schnitt der Impressionisten loszukommen. Der Gegensatz
zu einer dem Gegenständlichen unkünstlerisch hinge-
gebenen Zeit, der den Wert beider ausmacht, ist auch
beider Gefahr geworden: irgendwo ist der Kunst als
Dienerin des Lebens eine Grenze gesetzt, die sie nicht
überschreiten darf, ohne herrisch zu werden; gegen die
unkünstlerische Überschätzung des Was in der Kunst,
die der Naturalismus vorstellt, gibt es eine künstlerische
Überschätzung des Wie, die sich am Leben vergreift.
Voraussetzung aller Kunst ist die schöpferische Seele,
ihr erst dient, nicht sie beherrscht der künstlerische Verstand.
In Zeiten, wo sich die Seele unkünstlerisch und auch un-
schöpferisch so gehen läßt, wie wir es in der Kunst und
Dichtung unserer Tage erlebten, bedarf es der schärfsten
Anspannung des Verstandes, sie wieder in die Ordnung
der Schöpfung zurückzuzwingen; sich selber dann aber
ein Halt zuzurufen, wird seine höchste Leistung sein.
Um dieses Bedenken auf die Epik von Paul Ernst
anzuwenden: es geschieht ihm, daß er der Absicht zu-
liebe sich an einem zu geringen Gegenstand vergreift,
alle Linie seiner Führung vermag dann nicht darüber
hinwegzutäuschen, daß sie an ein zu wenig verschwendet
ist; dem Taktstock des Künstlers quillt nicht das Leben
entgegen, aus dessen Bändigung im Takt erst der Rhyth-
mus zur Wirkung kommen kann. Je mehr der Gegen-
stand aber ausreicht, je mehr zeigt sich auch die Sicherheit
seiner Kunst, und einige Stücke gibt es von ihm (wie
„Papedöne" oder „Der Gefangene"), die in die
 
Annotationen