Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 26.1916

DOI Heft:
Heft 3
DOI Artikel:
Schäfer, Wilhelm: Naturalismus, Epik und Paul Ernst
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.26490#0105

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
aturalismus, Epik u. Paul Ei nst".
Über Paul Ernst den Erzähler urteilen, heißt vor
die Grundfrage der epischen Dichtung gestellt sein;
nur wer seine novellistischen Versuche auf diesem Urgrund
sieht, wird ihrem Willen gerecht werden und also den
Maßstab haben, ihren Wert einzuschätzen. Kaum ein
anderer Zeitgenosse hat diese Grundfrage so streng ge-
nommen wie eben Paul Ernst, der mit seinem „Weg zur
Form" durchaus etwas anderes vorstellt als den „Feld-
webel der Kunst", wie ihn eine leichtfertige Betrach-
tung genannt hat. Kaum eine andere Zeit mag aber
auch so wenig zu einer solchen Fragestellung geneigt ge-
wesen sein wie die unsrige, die sich immer noch nicht
von der naturalistischen Bequemlichkeit lösen kann.
Alles, was uns allgemein in der bildenden Kunst unserer
Tage als Impressionismus und in dem besonderen Ge-
biet der epischen Kunst als psychologische Novelle oder
Milieu-Roman mit selbstgefälliger Beharrlichkeit vor-
kommt, ist als Kunstwesen betrachtet eben doch nur
irgend eine Spielart des Naturalismus, der als Gesund-
brunnen der Kunst — wie er uns vor zwei Jahrzehnten
mit der gläubigen Inbrunst seiner neuen Entdecker
gepriesen wurde — zur Erneuerung der Mittel gewiß
seine Notwendigkeit und seinen Wert hat, aber darum
doch eine Verkennung der künstlerischen Schöpfung zu-
gunsten dieser Mittel bedeutet.
In der Malerei wird seine Beschränkung am ehe-
sten klar: Bevor wir da den Impressionismus von
unseren westlichen Nachbarn übernahmen, hatten wir
den jämmerlichen Ausgang der Nazarener und Roman-
tiker in die Historien- und Genremalerei derer um
Piloty und Vautier. So sehr dieser Troß sich von der
idealen Absicht eines Cornelius unterscheiden mag, der
grundlegende Irrtum war der gleiche — daß sich die
Malerei ohne Kenntnis und Anwendung der farbigen
Lebensgesetze rein aus dem Gedanken bewältigen ließe:
also eine Verkennung der Malkunst als Handwerk, die
sich in Ermangelung eigener künstlerischer Mittel unbe-
kümmert der überlieferten bediente und die alten
Schläuche leichthin mit neuem Wein zu füllen gedachte.
Ihr gegenüber bedeutete der Impressionismus wirklich
einen Gesundbrunnen, indem er den hochmütigen Leicht-
sinn dieser Absicht in ein demütiges Selbstlernen vor der
Natur zurückführte: erst, als sich aus der begeisterten
Hingabe an dieses sehr reale Ideal mit der eigenen Er-
werbung einer Naturanschauung auch eine Erneuerung
der farbigen Mittel ergeben hatte, konnte die Malerei
unserer Tage daran gehen, im Sinn, d. h. im Gesetz
der alten Meister wieder Bilder zu malen. Daß wir in
der Malerei an diesem Wendepunkt stehen, ist eine Tat-
sache, die von den Jüngsten ebenso hitzig gefühlt, wie von
den im Impressionismus alt gewordenen Jungen ge-
leugnet wird, weil die sich unterdessen auf das Studium
der Natur und die Übung der naturalistischen Mittel so
eingerichtet haben, daß sie kunstvergessen in ihrem Ge-
sundbrunnen weiterplantschen möchten.
* Dieser Aussatz steht in einem Buch, das zur Ehrung des
Dichters an seinem 50. Geburtstag bei Georg Müller heraus-
kam und u. a. Beiträge von Cm. v. Bodman, Karl Scheffler,
Ioh. Schlaf, W. v. Scholz und O. Stoeßl enthalt.

Man braucht sich nur an die Zeiten der Dahn, Ebers,
Baumbach und Julius Wolff zu erinnern, um die Über-
einstimmung dieser malerischen Entwicklung mit der
epischen zum Naturalismus der neunziger Jahre des ver-
gangenen Jahrhunderts zu erkennen: auch hier galt es,
neu aus dem Gesundbrunnen der Anschauung zu schöpfen,
und der tut der Naturschilderungsinbrunst der damaligen
Romane und Skizzen — in Wahrheit waren es Studien —
ebenso unrecht wie dem Gestammel der naturalistischen
Dramen, wer ihre Herkunft und ihren Instinkt übersieht.
Diese Rechtfertigung des Naturalismus ändert aber auch
hier nichts an seiner Bewertung, letzten Grundes nur
Mittel zum Zweck der Kunst zu sein. Die in seinem Ge-
sundbrunnen plätschernde Anschauung muß einmal ver-
jüngt dem Bad entsteigen, statt das Vergnügen unauf-
hörlich zu genießen, da sie sonst nach der Logik seiner ver-
jüngenden Kräfte schließlich zum Säugling darin zu
werden in Gefahr stände.
Um weniger bildlich zu sprechen: die epischen Ver-
suche des Naturalismus waren wie die Leinwände der
malenden Genossen Impressionen und ihre Lieblings-
form stellte der Roman als eine Folge von Zustands-
fchilderungen vor, die irgendwo und irgendwann bei
einem Individuum oder gar bei der beliebten Allgemein-
heit einer sozialen Schicht einsetzten und ebenso unge-
bunden aufhörten. Die Grenze zwischen Novelle und
Roman wurde allein durch den Umfang gezogen, und
was in allen guten Zeiten der Epik ihre Hauptsache war,
die Handlung diente allzuoft nur als der bequemste
Rahmen für lyrische Ergüsse und dramatische Zwie-
sprachen. Die Bemühung des reifen Goethe um die
Novelle stand bei diesem Mischmasch als eine altmodische
Schrulle, und die eiserne Zucht, mit der Heinrich von
Kleist die hinreißende Beredsamkeit seiner Penthesilea
in der Epik zur Chronik bändigte, schien für die Deutschen
jener neunziger Jahre vergebens aufgewandt.
Eine Chronik der Leidenschaft aber in der sicheren
Geschlossenheit des Gewesenen statt im Stammeln ihres
noch ungelösten Daseins darzubieten, muß notgedrungen
die Aufgabe der Epik sein, da sie von dem Schicksal nur
einen nachträglichen Bericht geben und es nicht auf die
sichtbare Bühne handelnder Gestalten bringen kann. Im
Theater tritt eine Figur auf, spricht und bewegt sich, als
ob ihr Schein Gegenwart wäre, und wem der Schein
nicht Gegenwart wird, der bleibt ein halber Zuschauer,
auch wenn er von den Worten entzückt ist und die Kulissen
lobt. Im Epos ist nichts da als der angebliche oder wirk-
liche Erzähler, der in seinen Sätzen den Schein einer
Vergangenheit vorbeiziehen läßt, und wer die Gegen-
wart nicht vergißt, bleibt ihm ein halber Hörer; denn
alles, was er sagt, ist einmal gewesen und ihm bis zum
Ende vorbekannt, als er anhub, es zu erzählen. Gewiß,
es ist das gleiche, wie sich ein Schicksal verwirrt und löst,
aber es wird nicht im Querschnitt des Konfliktes, sondern
im Längsschnitt seines Wachstums gegeben, den man ge-
duldig abwandern muß.) Dabei kann der Dichter selber
nicht im Theater seiner Gestalten verschwinden; denn
er bleibt ja von Anfang an der Führer, dessen kundiges
Wort uns auf den Weg eines Schicksals gelockt hat, das
unabänderlich abgeschlossen in der Vergangenheit liegt.
Freilich, wenn er wehklagen oder erschrecken, zur Seite
yz


4
 
Annotationen