Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 26.1916

DOI Heft:
Heft 3
DOI Artikel:
Ernst, Paul: Die Briefe des Verstorbenen: eine Spitzbubengeschichte
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.26490#0108

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Die Briefe des Verstorbenen.

selber, indem sie sich in Lange Rübe bis über ihre beiden
reizenden Öhrchen verliebt; Lange Rübe hat nicht mehr
nötig, ihr gegenüber die Täuschung aufrechtzuerhalten,
und wie sie ihn lachend fragt, erzählt er ihr, wodurch er
nach Neapel gekommen ist. Er hat wirklich nicht mehr
nötig, ihr zu mißtrauen; denn der Leser wird zwar denken,
daß die schöne Lucia zu manchem entschlossen gewesen
sein mag, als sie Lange Rübe aufsuchte, und daß auch
die stärksten Beweise ihrer Liebe doch nicht jedes Miß-
trauen bei Langer Rübe verbannen dürfen; aber er kann
sicher sein, daß Lange Rübe ein Menschenkenner ist und
genau weiß, die schöne Lucia ist aus dem Lager ihres
Vaters in das seinige übergegangen.
Es ist ja wohl keiner von ihnen die erste Liebe des
anderen. Aber Lucia fragt Lange Rübe: „Du liebst mich
doch, nicht wahr? Wenn du mich einmal nicht mehr
liebst, dann mußt du es mir gleich sagen. Ich werde dir
keine Vorwürfe machen. Ich will dir dann auch nicht
zur Last fallen. Aber jetzt liebst du mich, nicht wahr?
Solange du mir nichts sagst, liebst du mich." Lange Rübe
schweigt, wischt sich die Augen und sagt endlich: „Ja, du
bist eine anstellige Person, mit dir kann ein vernünftiger
Mann schon etwas werden."
Nun besprechen sie die nächste Zukunft, denn die
fernere ist ihnen ja gleichgültig. Lange Rübe würde
gern in Neapel bleiben, aber die schöne Lucia schüttelt
den Kopf. Die Kamorra nimmt ihn nicht auf. In Neapel
herrscht der engherzigste Geist, den man sich denken kann.
Nein, sie können nicht in Neapel bleiben; aber sie wird
ihm nach Nom folgen.
Hier taucht nun die Frage auf, woher die beiden
das Geld für die Reise nehmen werden. Aber während
sie das überlegen und besprechen, ist für das Geld schon
gesorgt.
Die Dame in Rom, welche mit Langer Rübe fliehen
wollte, hat, wie wir wissen, ihrem Neffen ihr Leid ge-
klagt. Der Neffe, welcher sich sagt, daß die Tante doch
einmal ein Testament machen wird, stimmt in ihre Ver-
wünschungen gegen den räuberischen Geliebten ein. Da
dieser ein Unwürdiger ist, so hat ihn die Tante natürlich
aus ihrem Herzen verstoßen; aber die Briefe ihres ver-
storbenen Gatten muß sie wieder haben, welche der
Mensch ihr so schändlich geraubt hat, die Briefe, welche
ihr einziger Trost in den langen Jahren ihrer Witwenzeit
gewesen sind, welche sie an den edelsten, begabtesten
Mann erinnern, der ihr und der Menschheit leider allzu-
früh entrissen wurde. Der Neffe verspricht, sein möglich-
stes zu tun; sie ist bereit, alle Kosten zu tragen; der Neffe
macht den Kutscher ausfindig, erfährt Namen und Ge-
schichte des Liebhabers, ergötzt seine Freunde, indem er
ihnen alles mit einigen künstlerischen Ausschmückungen
erzählt, und geht dann zum Polizeihauptmann Tromba
und läßt durch ihn bekanntmachen, wer Lange Rübe
gefangennehme, der erhalte von ihm tausend Skudi.
Tausend Skudi sind eine schöne Summe, und so hat
sich denn auch in Neapel unter den Häschern schnell die
Nachricht verbreitet, daß auf Lange Rübe tausend Skudi
gesetzt sind. Die schöne Lucia erfährt es von ihrem Vater,
der aufgeregt im Zimmer auf und ab geht und sagt:
„Das Glück wird natürlich wieder ein anderer haben!
Tausend Skudi! Ich könnte meinen Adel erneuern lassen.

wenn ich sie bekäme. Ich könnte mir ein Haus kaufen.
Ich könnte mir Pferd und Wagen halten. Lucia könnte
einen Advokaten heiraten. Tausend Skudi! Aber für
den Messer Molinari sind keine tausend Skudi. Sorgen,
Kummer, Leiden, das ist für den Messer Molinari. Er
hat dem Staate treu gedient. Was hat er davon? Die
tausend Skudi bekommt ein anderer."
Lucia hat einen Plan gefaßt und bespricht ihn nut
Langer Rübe. Dann geht sie zu ihrem Vater und teilt
ihm mit, daß er die tausend Skudi verdient hat: der In-
spektor ist der Gesuchte, sie hat das ausgekundschaftet.
Er muß nur vorsichtig und schnell gefangengenommen
werden, ehe er Wind bekommt.
Wir brauchen die Verhaftung Langer Rübe nicht zu
schildern. Genug, daß man ihn ins Gefängnis gesetzt
hat, in den Kellern des Hauses, in welchem Messer
Molinari mit Lucia wohnt; daß der große Schlüssel zu
seinem Gefängnis über Messer Molinaris Bett hängt,
und daß die tausend Skudi bar ausgezahlt sind. Da Lange
Rübe den Kasten mit den Briefen vorher der schönen
Lucia gegeben hat, so hat die Polizei den freilich nicht
mehr finden können, und die Dame in Nom erklärt ihrem
Neffen, daß sie ihm die tausend Skudi nicht ersetzen werde,
denn ihr liege gar nichts an dem schlechten Menschen, den
sie veracbte, weil er zu tief stehe für ihren Haß, und der
vielleicht nur darauf warte, um sie vor Gericht zu blamie-
ren, sondern sie wolle ihre Briefe wiederhaben. Sie
ahnt nicht, daß bereits verschiedene Dichter beschäftigt
sind, ihre Liebesgeschichte poetisch zu verherrlichen.
Natürlich hatten die schöne Lucia und Lange Rübe
vorher einen Plan zur Flucht verabredet, bei welcher der
Schlüssel über dem Bett eine Nolle spielt. Die Sparsam-
keit der Tante macht aber das immerhin gefährliche
Unternehmen überflüssig. Die Verhaftung war nur
sozusagen ein Privatunternehmen des Messer Molinari
gewesen. Er hat an den Neffen geschrieben, ob er Lange
Rübe auf seine, des Neffen, Unkosten nach Rom schaffen
solle, und der Neffe hat ihm grob geantwortet, seinet-
wegen könne er den Kerl aufhängen oder laufen lassen,
ihn habe die Geschichte schon an die elfhundert Skudi
gekostet und er habe keine Lust, noch mehr Geld zum
Fenster hinauszuwerfen. Der Neapolitanische Staat
hat nicht das geringste Interesse daran, einen römischen
Gauner auf seinen Galeeren zu beköstigen, er hat genug
Landeskinder zu versorgen. Messer Molinari hat des-
gleichen keine Lust, ihm täglich seine Makkaroni auf seine
Kosten ins Gefängnis zu schicken, denn die tausend Skudi
hat er ja nun; so beschließt denn der Rat, man solle Lange
Rübe rückwärts auf einem Esel durch die Stadt führen
und ihn dann des Landes verweisen.
Während die schöne Lucia in einem Hinterstübchen
weint, sieht Messer Molinari vom Balkon seines Hauses,
wie Lange Rübe unter dem Jubel der Straßenjugend
verkehrt auf den Esel gesetzt wird; immerhin ist er doch
sozusagen der Schwiegervater von -Langer Rübe, und
Lange Rübe zieht deshalb seinen eleganten Federhut
mit einer tiefen Verbeugung vor ibm ab. Die Straßen-
jugend findet, daß das ein guter Witz ist, bringt auf Lange
Rübe ein Hoch aus und richtet die Wurfgeschosse von
Dreck, die sie für ihn bereitgehalten, auf den Messer-
Molinari; eine Dame, die nebenan wohnt, und ver-
 
Annotationen