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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Editor]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 26.1916

DOI issue:
Heft 9
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Stoecklin, Francisca: Träume
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https://doi.org/10.11588/diglit.26490#0325

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Träume.

Häuser, von dem die vorderen Wände vollständig weg-
gerissen sind, so daß man hineinsehen kann wie in eine
mehrstöckige Puppenstube, klettert ein Schatten, und der
Schatten "ist ein Mann, der sich bewegungslos vor mich
hinstellt. Ich wage keinen Schritt mehr weiter zu gehen,
denn der Mann hat keinen Mund und keine Nase, nur
ein einziges Auge, welches in der Mitte eines kreide-
bleichen Kopfes "steht und furchtbar funkelt. Und das
Auge wird größer, immer größer, wächst über den Kopf
hinaus, wird zum Mond, der an den: tintenschwarzen
Himmel hängt und seinen phosphoreszierenden Schein
auf die Straße und die zerfallenen Häuser wirft. Da
überkommt mich eine müde Trostlosigkeit, daß ich an
eine Mauer sinke und weine . . . weine . . .
Der Nußbaum.
Ich gehe durch eine Landschaft meiner Kindheit. Es
ist ein heißer Sommertag, die Landstraße ist staubweiß
und die Matten voller Löwenzahn. Ich gehe sehr eilig
auf den alten knorrigen Nußbaum zu, der an einer Bie-
gung des Weges steht. Eine Menge Kinder springen um
denselben herum. Sie haben ganz steife Röckchen, und
ganz schlanke Beinchen, und jedes hat eine Schnur mit
einem lebenden Schmetterling daran. Sie laufen wie
man es mit Papierdrachen tut, aber in einem Kreis
und immer um den Nußbaum herum. Ich binde mir
auch einen Trauermantel an eine Schnur und suche mich
unmerklich in den Kreis zu mischen; aber all meine An-
strengungen sind vergeblich, denn sobald ich in eine der
Lücken springen will, versperrt mir eines der Kinder
den Platz. Enttäuscht werfe ich mich ins Gras und da
sehe ich plötzlich, daß die Kinder verschwunden sind, daß
ich ganz allein gelassen bin, und daß auch von meiner
Schnur der Trauermantel fortgeflogen ist.
Sterben.
Ich befinde mich in einer dumpfen Gasse. Ich fühle
meinen Kopf einige Male am Pflasterstein aufschlagen,
dann verliere ich die Besinnung. . . Ich schlage meine
Augen auf, in einem niederen Zimmer, dessen Wände
mit belgischen Briefmarken tapeziert sind. Ich liege
auf einem Sofa, mein Vater hält mich beim Hand-
gelenk. Er fragt mich mit trauriger Stimme, was denn
geschehen sei? Ich sage: ich weiß von nichts, aber
vielleicht ist es eine Intrige, es kam ganz plötzlich, und
jetzt spür ich, daß man mir ja die Schädeldecke abge-
nommen hat, daß mein Gehirn bloß daliegt; aber da
ist auch mein Vater schon verschwunden. Um mich be-
mühen sich drei Frauen. Schneiderinnen, denke ich.
Sie haben ordinäre Bewegungen, wenn sie mir die
Kissen zurechtrücken. An ihren Blusen sind angegelbte
Tülleinsätze. Ich höre, wie die eine zur andern sagt:
„Wenn es dann vorbei ist, machst du alles schön himmel-
blau." Da weiß ich es, daß ich sterben muß. Ich versuche
ihnen verständlich zu machen, daß man meine Mutter
holen soll, bringe aber keinen Ton heraus. Große Tränen
fallen aus meinen Augen, und da fühle ich schon, wie
mir das Leben aus den Zehen gezogen wird, langsam,
wie an Fäden.
Das Dunkel.
Man hat mich wieder ins Institut gebracht. Dasselbe
:st früher ein Kloster gewesen. Es ist tief Nacht. Die

Pensionärinnen liegen in ihren Betten, in den: weiß-
lackierten Saal, der vom Monde grün beschienen ist. Ich
bin die Einzige im Saal, die wacht. Ich sitze aufrecht in
meinem Bettgestell und horche auf das Schlafgeräusch
meiner Zimmergenossinnen. Tonlos öffnet sich die
Türe ... Ich höre das dumpfe Auftreten von entblößten
Füßen, kann aber, obschon ich unausgesetzt nach jener
Richtung starre, keinen Menschen, nicht einmal einen
Schatten sehen. Jetzt stehen die Pensionärinnen, ohne
ein Wort zu sprechen, von ihren Betten auf. Ich denke,
es ist seltsam, noch nie ging man um diese Zeit in die
Hauskapelle. Schon wandeln wir in einem langen Zug,
immer zu zweien, in unseren schleppenden Nachtge-
wändern, durch die Gänge mit den romanischen Rund-
bogen, die Steintreppen hinab — endlos tief. Ich weiß,
es steht ein großes Unglück bevor, denn wir gehen tiefer,
immer tiefer; wir müssen schon weit in der Erde drin
sein, es ist ringsum schwarz, und die Luft zum Ersticken.
Ich taste nach der Hand meiner Gefährtin, sie ist mir
in der Finsternis entglitten. Da ich sie nicht finde, über-
fällt mich eine wahnsinnige Angst. Ich bin allein, tief
in der Erde, und Dunkel — ewiges Dunkel. Nach Atem
ringend erwache ich.
Das Wolkenschiff.
Ich liege in einer Wiese, inmitten hoher gelb-
gesternter Blumen. Ab und zu läßt sie ein Windhauch
über mir zusammenschlagen; dann habe ich das Gefühl,
als läge ich in einer Auster, die eine Göttin, vor der sünd-
haften Welt, in diesen Rasenteppich verborgen hatte.
Wie lange ich wohl schon so daliege, ich weiß es nicht,
und vielleicht geht es noch lange, weil ich warten muß,
bis man mich holt. Ich liege und liege, und staune in
den blauen fiebernden Himmel, der sich unendlich über
mir auftut. Wolken reisen vorüber, Wolken, heilige
Wunder, und ich darf ihnen nachschauen. Jeder, lange,
lange ... bis man sie nicht mehr sehen kann. Von Osten
kommt eine neue, große, ganz aufgeblasene Wolke. Sie
ist gegliedert, sie bewegt sich wie eine Raupe, indem sie
immer das Hintere Glied an Stelle des vorderen schiebt.
Sie kriecht näher, hält plötzlich senkrecht über mir still,
und jetzt weiß ich, daß es das Schiff ist, auf welches ich
gewartet habe. Ich denke, ob ich mich durch Rufen und
Gesten bemerkbar machen soll, sehe aber, wie in dem-
selben Augenblick eine hohe, am Kiel stehende Gestalt
eine Kette löst und mir dieselbe zuwirft. Ich greife nach
ihrem Ende, sie ist dünn und wie aus Mondenschein.
Ich werde hinaufgezogen, in rasender Geschwindigkeit,
höher, immer höher, durch den blauen Äther, schon
gleite ich über Bord, schon erkenne ich das Gesicht des
Helden. Er hält mir die Arme entgegen, ich will hinein-
sinken. Da zerrinnt alles im Nebel.
Das Limonadenhäuschen.
Ich gehe mit meiner Freundin eine breite Stein-
treppe hinab. Wir kommen an ein rotgestrichenes
Limonadenhäuschen, welches auf der linken Seite der
Treppe in die Wand gebaut ist. „Gefundene Gegen-
stände" steht mit Kreide geschrieben auf einem schwarzen
Aushängeschild. „Was ist gefällig?" sagt die Verkäuferin,
ein dickes Mädchen mit ungekämmtem Haar und Pickeln
ZIl
 
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