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Schulz, Fritz Traugott
Typisches der großen Heidelberger Liederhandschrift und verwandter Handschriften nach Wort und Bild: eine germanistisch-antiquarische Untersuchung — Göttingen, 1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.3971#0058
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58

silbenzählende Handbewegung der Rechten hat ausdrücken
wollen, nicht allzu gewagt sein wird.

Das dem unsrigen entsprechende Bild der Weingartner
Handschrift, welches die Ueberschrift • MAIST • HAINEICH
:U:VELÜEG- trägt und an zwölfter Stelle steht1), zeigt un-
seren Dichter ebenfalls in der oben beschriebenen Positur;
die einzige Abweichung besteht darin, dass das linke Knie
über den rechten Schenkel geschlagen ist. Doch während in
der Pariser Liederhandschrift die Vögel von allen Seiten den
Helden umschwirren, nisten sie in der Weingartner Hand-
schrift auf einem dichtbelaubten Baum 2), welcher an die Stelle
des üppigen Blumengrundes dort getreten ist. Mögen auch
die beiden Bilder auf eine gemeinsame Quelle zurückzuführen
sein, so scheint doch bei dem Maler der Heidelberger Hand-
schrift deutlich das Bestreben vorzuwalten, sich enger an den
Wortlaut des Liedes anzuschliessen, da es dort heisst: da man
bluomen siet; und entspricht es nicht ferner vielmehr dem
Text: das die vogel offenbare (i. e. offen gezeigt) singent,
wenn er dieselben den Sänger rings umflattern lässt, als wenn
er sie einfach auf einem Baume hätte nisten lassen ?

Während nun der Dichter der Eneit über Unglück in der
Liebe klagt, ist es, wie wir sehen werden, ein anderer, weit
tiefer liegender und uns in weit höherem Grade ergreifender
Grund, welcher den bedeutendsten Lyriker des Deutschen Mit-
telalters, die „Meisterin" unter den Nachtigallen, mit welchen
Gottfried im Tristan die Minnesänger vergleicht3), ich sage,
es ist ein anderer Grund, welcher den grössten Lyriker, den
Deutschland vor Goethe besessen 4), in eine so grosse Trauer

1) Siehe "Weing. Hs. herausg. von Franz Pfeiffer und F. Fell-
ner S. 60.

2) Vgl. Repertorium für Kunstwissenschaft, Bd. XI. (1888) S. 331.

3) Es heisst dort: wer leitet nü die lieben schar? und die Antwort
darauf: ir meisterinne kan ez wol, diu von der Vogelweide. Ich erin-
nere auch an die rührenden und sicher aus aufrichtigem Herzen stam-
menden Worte Hugos von Trimberg im Renner 1218—1219: her Walther
von der Vogelweide, swer des vergaeze, der taet mir leide.

4) Scherer, a.a.O. S. 209: Gleichwohl hat Deutschland vor
Goethe keinen Lyriker gehabt, der sich mit Walther vergleichen liesse.
 
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