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Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 2): Keramik, Tektonik, Stereotomie, Metallotechnik für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — München, 1863

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https://doi.org/10.11588/diglit.1300#0215
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210 Siebentes Hauptstück.

Wurzelformen zurück und finden in ihnen den Schlüssel zu
ihrer artistischen Würdigung. f

Nun sind aber diese Wurzelformen der Tektonik viel älter
als die Baukunst und bereits in vormonumentaler Zeit an
dem beweglichen Hausrath zu vollster und sehr ausge-
sprochener Entwicklung und Ausbildung gelangt, ehe die heilige
Hütte, das Gottesgehäuse, das monumentale Gezimmer seine
Kunstform erhielt. Daraus folgt nach dem allgemeinen Gesetze
des menschlichen Schaffens, dass diese, nämlich die Kunstform
des monumentalen Gezimmers, nothwendig eine Modifikation des-
jenigen war, was die Tektonik an ihrem älteren Objekte aus sich
heraus gebildet hatte.

Dieser wichtige Sachbestand, worauf bereits des Oefteren in
dem Vorhergehenden hingewiesen worden ist, beseitigt ein für
allemal den müssigen Streit über die vitruvianische Holzhütte,
als angebliches Vorbild und rohestes Motiv des Tempels, für
dessen Gesammtform und seine architektonischen Glieder. Sie
beseitigt auch andere Theorieen, die erst in neuester Zeit auf-
tauchten, wonach der vollendete dorische Tempel ohne Vorbild und
Antecedens, aus den materiellsten Erfordernissen des angewandten
Stoffes, nämlich des Steines, wie Pallas Athene, vollständig gewapp-
net und gerüstet hervorging. * Der Tempel bleibt immer ein P egm a,
ein Gezimmer, in dem eben bezeichneten Sinne, sei er aus
Holz oder aus Stein erbaut, aber ihre Kunstformen haben beide,
der hölzerne wie der steinerne Tempel, weder aus sich heraus
„erbildet", noch von einander entlehnt, sondern mit Pegmen ge-
mein die als Hausgeräthe bereits viel früher mit ihnen eigentüm-
lichen Kunstformen bekleidet worden waren.

Diese Typen erfahren in dem monumentalen Gerüste aller-
dings grosse Umwandlungen, aber dieses nur insoweit der neue
Zweck, der neue Stoff, vornehmlich aber der nun entstandene
Gegensatz zwischen dem beweglichen Hausrath und dem un-
beweglichen Baue sie herbeiführen und nothwendig machen.
Aber die Kunstformen, mit denen man den Hausrath um-
kleidete, ehe die monumentale Kunst sie annahm, sind ihrerseits

1 Am weitesten geht hierin der Architekt Viollet Le Duc, der die cylin-
drisehe Form der Säulen ans dem Vortheile herleitet, den diese Form den
Steinbrechern gewährt, da die Säulentrommeln bequem von den Brüchen her-
unter gerollt werden können!
 
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