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Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 2): Keramik, Tektonik, Stereotomie, Metallotechnik für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — München, 1863

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https://doi.org/10.11588/diglit.1300#0392
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Stereotomie (Steinkonstruktion). Zwecklich-Formelles. 387

lieferte gefesselt. Dieses gilt von den bekrönenden Gliedern so
gut wie von denen, womit ein Bau oder Gebäudetheil nach unten
abschliesst. Die krönende gothische Wassernase mit der Hohl-
kehle und dem Viertelsstab ist der nordisch akklimatisirte, syrisch-
ägyptische Blattüberschlag mit seinem Astragal. Das Prototyp,
woraus fast alle nach unten abschliessenden Gliederungen her-
vorgingen, ist die attische Säulenbasis. Hier darf bemerkt wer-
den, dass im Mittelalter der Gegensatz zwischen Unterbau und
Aufsatz weniger klar hervortritt als im Alterthum. An vielen
Werken des Mittelalters vermisst man ihn ganz. Dagegen gefällt
sich die Baukunst der Renaissance in der mehrfachen Ueberein-
anderstellung von Podien und Untersätzen, die auf den Aufsatz
vorbereitend hinüberleiten. Dieses Verfahren entspricht dem Ideen-
reiehthum der blühenden Frühperiode der Renaissance, indem da-
durch der bezeichnete Gegensatz bald stärker hervorgehoben und
betont, bald gemässigt werden kann, je nach dem Ausdruck, der
einem Werke zugetheilt werden soll.

Die Hochrenaissance verfolgt auf einem anderen Wege das
gleiche Streben nach Reichthum des architektonischen Ausdrucks
und kommt durch das Studium Vitruvs und alter Monumente
wieder auf die antike Behandlung des genannten Gegensatzes
zurück, soweit diese in der nur einmaligen höchstens zweimaligen
Betonung desselben besteht. Die Podien und Piedestale werden
zu integrirenden Theilen der 5 Säulenordnungen, ihre Verhältnisse,
in sich und zu dem Getragenen, modeln sich nach diesen. 1

Bei aller Berechtigung jener in den 5 Ordnungen enthaltenen
Gesetze ist ihre unbedingte und gleichsam wörtliche Befolgung
dennoch unstatthaft, weil sich eben keine allgemeingültige Ver-
hältnissregeln mit Zahlen und Grössen bestimmt umschreiben
lassen. So lässt sich denn auch über das Verhältniss des Unter-
baues zu dem Aufsatze nur Allgemeines als stets zu Recht
bestehend geben.

Man vermeide zunächst und vor Allem die Gleichheit der bei-
den genannten integrirenden Theile der Form. Bei dem einfachen
Säulenbau bildet das Podium die Basis und entspricht es dem

1 Bei der grossen Menge und Verbreitung illustrirter Werke über mittel-
alterliche Baukunst, Renaissance, Säulenordnungen u. s. w. hielten wir ej für
unnüthig, die Anzahl der gegebenen Beispiele von Podien noch durch andere
aus dem Mittelalter und der Renaissance zu vergrüssern.
 
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