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VIII.

Michelangelo’s Dichtungen und Liebe.
Hn Michelangelo’s Leben kommt alles anders, als man es
erwartet. Der grosse Bildhauer leistet sein Beiles als Maler;
die Werke, zu welchen er gezwungen wird, gelingen; was
er selbsl mit Begeislerung ergreift, bleibt unvollendet oder
verdirbt. Zu dichten und zu lieben gilt als das kösUichste
Vorrecht frischer Jugend: Michelangelo findet erll in reiferen Jahren
Lust und Musse zur Poesie und wurde von Amors Pfeil getroffen, als er
bereits an der Schwelle des ■Greisenalters stand. So berichtet die
Tradition. Die genauere Forschung hat die überlieferte Sage nur ein-
geschränkt, nicht gänzlich Lügen gestraft. Wir wissen, dass einzelne Ge-
dichte Michelangelo’s in seine Jugendzeit fallen, ein von ihm verfasstes
Madrigal schon im Jahre 1519 in Musik gesetzt war. Die Mehrzahl der
Poesien gehört aber in der That seinem römischen Aufenthalte seit 15 34
an. Diese lange Enthaltsamkeit, vorausgesetzt, dass die uns erhaltenen
Gedichte den grösseren Theil seiner poetischen Thätigkeit umspannen,
überrascht um so mehr, als Michelangelo keineswegs der Poesie nur ge-
legentlich, gleichsam zum Zeitvertreibe huldigte, sondern von dem ernsten
Drange und Berufe zu dichten getrieben wurde. Darin unterscheidet er
sich wesentlich von Raffael.
Auch Raffael machte Verse, aber kein Verständiger wird die fünf
Sonette, die wir von ihm besitzen, als einen Beweis, wie sehr die Poesie
zu seinem Lebenselemente gehörte, ansehen. Er schrieb sie alle zur
selben Zeit (aus Skizzenblättern zur Disputa) nieder, bald nachdem er
in Rom sich niedergelassen hatte, und widmete sie demselben Gegenstande.
Liebesgessüster ist ausschliesslich ihr Inhalt, Sehnsucht und Wonne die
einzige Empfindung, welche sie alle durchströmt. Er zagt, ob er wohl
in der Liebe Frieden finden werde, und möchte sein Glück verbergen.
Aber die Kette, welche weisse Hände um seinen Nacken geschlungen,
 
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