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II. Thomasin von Zerclaere.

Abschnitt 10.
Thomasins politische Stellung.
In einer kampferfüllten Zeit hat sich Thomasin von Zerclaere seine
Weltanschauung errungen. Er hat endgültig mit der höfischen Welt
gebrochen, er ist Prediger geworden. Prediger, nicht christlich-humani-
stischer Philosoph, ebensowenig freilich weltflüchtiger und weltvernei-
nender Asket. Er bejaht auch diese Welt als Gottes Schöpfung. Er
ruft sie zu ihrer Pflicht zurück, zum Gehorsam gegen das ewige Gesetz
dessen, der sie geschaffen hat. Er läßt nicht ab, alles irdische Sein und
alles irdische Tun auf den großen Urheber selbst zu beziehen, an seinem
Gebote zu messen, unter sein Wort zu stellen. Jedes Laster, jede Sünde
wurzelt in übermütigem Ungehorsam, ist hoffärtige Auflehnung, die
ins Verderben, zum ewigen Tode führt. Der Begriff der Schöpfungs-
ordnung als kosmisches wie sittliches Gesetz ist auch die Grundlage der
politischen Forderungen des Welschen Gastes.
Schon Schönbach bekennt, ihm habe sich bei wiederholtem Stu-
dium des Werkes immer bestimmter die Beobachtung nufgedrängt, daß
„viel Mehr Anspielungen auf die eigenen Schicksale des Verfassers und
auf die geschichtlichen Vorkommnisse seiner Zeit" darin stecken, als mau
bisher erkannt habe^. Das ist gewiß richtig. Tiefgreifende Erlebnisse
wie Auseinandersetzungen und Begegnungen mit Ketzern, deren er
selbst wo! tüseut (11299f.) gesehen hat, wie Ottos Romzug, Krönung
und Abfall haben bleibenden Einfluß auf die Haltung des jungen Geist-
lichen ausgeübt. Die Nöte der Zeit drängen ihm die Feder in die Hand
und nötigen ihn, die Freuden des Hofes und die Pflichten des Berufes
darüber eine Zeitlang zu vernachlässigen. Das aber kann seinem Bischof
und Landesherrn nicht gleichgültig sein. Wolfger hat manches gelehrte
oder Kunstwerk durch reiche Gaben erst ermöglicht. Sicherlich weiß er
auch um das Unternehmen eines seiner Domherren. Wie einst in Passau
Eilbert und der Nibelungendichter, wie Albrecht von Johannsdvrf und
Walther, wie Jahre hindurch Bnoncompagno, so wird auch Thomasin
sich seiner Gunst und Unterstützung erfreut haben. Dann aber erscheint
mir ein weiteres unzweifelhaft: Der Dichter wird auch dieses Mal
manches sagen und deutlich aussprechen, was man in der Umgebung
des Patriarchen, was dieser selbst nur leise raunt, was er denkt, aber
nicht öffentlich kundgibt. Thomasins Werk wird oftmals verraten, was
Urkunden und Verträge verschweigen. Es wird vielleicht hie und da
eine Antwort auf die Frage gebeu, die Lenel in seinen Untersuchungen

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