Die grofse Fortuna. 177
im Grofsen wagt in feiner »Nemefis«, die man gewöhnlich »das grofse
Glück« oder die »grofse Fortuna« nennt*). Die geflügelte Göttin der
Gerechtigkeit und Vergeltung fleht lächelnd gleichfalls auf einer Kugel
und trägt in einer Hand Zaum und Zügel für den übermüthigen Glück-
lichen, in der andern einen Pokal für das unbeachtete Verdienft. In
diefem mächtigen Frauenleibe verkörpert, tritt der nordifche Natur-
cultus zuerft vollbewufst und triumphierend in die Kunftgefchichte.
Um den Preis der Wahrheit ift alles geopfert, was wir nach unferem
antikiüerenden äfthetifchen Formalismus etwa fchön nennen möchten.
Und doch beugt fich der Gefchmack vor der unvergänglichen Wahrheit
diefer Formen, vor der Fülle des Lebens, die aus diefen Gliedern
quillt. Die Nemefis bezeichnet gewiffermafsen den Höhepunkt, auf
welchem Dürer in feiner vorurteilsfreien Schulung nach dem Nackten
angelangt war. Seine weitere Ausbildung in diefer Richtung wird
immer mehr und mehr von feinen Forfchungen nach den Proportionen
des menfchlichen Körpers beeinflufst.
Was den tieferen Sinn und die äufsere Veranlaffung diefer Dar-
ftellung der Nemefis anbelangt, fo drängt fich mir ein ganz beftimmter
Gedankengang auf, den ich nicht zurückhalten will, auf die Gefahr
hm, dafs er irrig fei; denn er gewährt uns zugleich einen bedeutfamen
Ausblick auf den hiftorifchen Hintergrund, vor welchem fich damals
Dürers Schaffen bewegte. Unter dem Wolkenfaume, über welchem
die Nemefis rechtshin gewandt fchwebt, hat Dürer eine Landfchaft
dargeftellt. Mitten zwifchen flehen Felsgehängen am Zufammenfluffe
zweier Giefsbäche fleht man eine Ortfchaft, die, fo wie üe daliegt um
das gothifche Kirchlein, ficher kein Phantafiegebilde ift, fondern auf
irgend eine Naturaufnahme, auf eine beftimmte Gegend zurückführt.
£u Sandrarts Zeit wollte man darin Eytas bei Grofswardein erkennen,
woher Dürers Vater flammte. Abgefehen von der Schwierigkeit, das
Herkommen der Anficht bis in Dürers Hände zu erklären, hat auch
Charakter und Lage der Ortfchaft mit der ungarifchen Pufta nicht
das minderte gemein. Es ift vielmehr eine Gegend im Gebirge, ja
geradezu eine Felfenfchlucht, was fich hier vor unferen Blicken auf-
thut. Offenbar fcheint doch die Oertlichkeit, welche hier gemeint ift,
mit der Nemefis in den Wolken in irgend einem gedanklichen Zu-
sammenhange zu flehen. Ein denkwürdiges Stück Nürnberger Ge-
schichte könnte uns über die Dinge Auffchlufs geben.
I) Bartfeh 77. Ein Studium zu dem
Stiche, im Gegenmine: die Umriffe der Ge-
walt und daneben noch der eine Flügel,
Thaufing, Dürer.
etwas mehr gefaltet und ungemein forg-
fältig mit der Feder ausgeführt, befindet
fich im Britifchen Mufeum.
g, Durer. . ,2
im Grofsen wagt in feiner »Nemefis«, die man gewöhnlich »das grofse
Glück« oder die »grofse Fortuna« nennt*). Die geflügelte Göttin der
Gerechtigkeit und Vergeltung fleht lächelnd gleichfalls auf einer Kugel
und trägt in einer Hand Zaum und Zügel für den übermüthigen Glück-
lichen, in der andern einen Pokal für das unbeachtete Verdienft. In
diefem mächtigen Frauenleibe verkörpert, tritt der nordifche Natur-
cultus zuerft vollbewufst und triumphierend in die Kunftgefchichte.
Um den Preis der Wahrheit ift alles geopfert, was wir nach unferem
antikiüerenden äfthetifchen Formalismus etwa fchön nennen möchten.
Und doch beugt fich der Gefchmack vor der unvergänglichen Wahrheit
diefer Formen, vor der Fülle des Lebens, die aus diefen Gliedern
quillt. Die Nemefis bezeichnet gewiffermafsen den Höhepunkt, auf
welchem Dürer in feiner vorurteilsfreien Schulung nach dem Nackten
angelangt war. Seine weitere Ausbildung in diefer Richtung wird
immer mehr und mehr von feinen Forfchungen nach den Proportionen
des menfchlichen Körpers beeinflufst.
Was den tieferen Sinn und die äufsere Veranlaffung diefer Dar-
ftellung der Nemefis anbelangt, fo drängt fich mir ein ganz beftimmter
Gedankengang auf, den ich nicht zurückhalten will, auf die Gefahr
hm, dafs er irrig fei; denn er gewährt uns zugleich einen bedeutfamen
Ausblick auf den hiftorifchen Hintergrund, vor welchem fich damals
Dürers Schaffen bewegte. Unter dem Wolkenfaume, über welchem
die Nemefis rechtshin gewandt fchwebt, hat Dürer eine Landfchaft
dargeftellt. Mitten zwifchen flehen Felsgehängen am Zufammenfluffe
zweier Giefsbäche fleht man eine Ortfchaft, die, fo wie üe daliegt um
das gothifche Kirchlein, ficher kein Phantafiegebilde ift, fondern auf
irgend eine Naturaufnahme, auf eine beftimmte Gegend zurückführt.
£u Sandrarts Zeit wollte man darin Eytas bei Grofswardein erkennen,
woher Dürers Vater flammte. Abgefehen von der Schwierigkeit, das
Herkommen der Anficht bis in Dürers Hände zu erklären, hat auch
Charakter und Lage der Ortfchaft mit der ungarifchen Pufta nicht
das minderte gemein. Es ift vielmehr eine Gegend im Gebirge, ja
geradezu eine Felfenfchlucht, was fich hier vor unferen Blicken auf-
thut. Offenbar fcheint doch die Oertlichkeit, welche hier gemeint ift,
mit der Nemefis in den Wolken in irgend einem gedanklichen Zu-
sammenhange zu flehen. Ein denkwürdiges Stück Nürnberger Ge-
schichte könnte uns über die Dinge Auffchlufs geben.
I) Bartfeh 77. Ein Studium zu dem
Stiche, im Gegenmine: die Umriffe der Ge-
walt und daneben noch der eine Flügel,
Thaufing, Dürer.
etwas mehr gefaltet und ungemein forg-
fältig mit der Feder ausgeführt, befindet
fich im Britifchen Mufeum.
g, Durer. . ,2