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Thode, Henry; Thode, Henry [Hrsg.]
Michelangelo und das Ende der Renaissance (Band 1): Das Genie und die Welt — Berlin: Grote, 1902

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https://doi.org/10.11588/diglit.47066#0071
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Der Kern und die treibende Kraft der Seele Michel-
angelos ist die Liebe. Nur in ihr offenbart sich ganz
das Geheimniss seines Wesens, denn in ihr beruht dessen
Einheit. Was überschwänglichen und unerschöpflichen Aus-
druck in seinen Gedichten findet und alle seine geistigen An-
schauungen, wie später erst ersichtlich werden wird, durch-
dringt, macht den Hauptinhalt seines inneren Lebens aus,
bestimmt sein Verhältniss zu der sichtbaren und unsichtbaren
Welt, verursacht ihm nie endende Leiden, aber verleiht
ihm auch die Flügel zum Aufschwung über Qual und Elend
des Daseins. Ein übermächtiger Drang, sich hinzugeben,
ein nie zu befriedigendes Sehnen, in dem Anderen aufzugehen,
sich zu verlieren in einer grossen Gemeinsamkeit des Fühlens,
treibt ihn als einen immerdar Suchenden zu den Menschen
und macht ihn zugleich zum Fremdling unter ihnen. „Denn
sie sind ohne Liebe“, so fasst er selbst einmal die trüben
Erfahrungen von menschlicher Schwäche und Bosheit zu-
sammen.
„Dass die Liebe nicht geliebt wird“, — auch er hätte in
solchem Klageruf seiner Erkenntnis von der Tragik der Welt
Worte verleihen können. An der Lieblosigkeit der Mensch-
heit hat, so lange es schlug, sein überbedürftiges Herz ge-
krankt. Es ist, wie sein sich abringender „Sklave“, in Fesseln
geschlagen, gequält von der Tyrannei der allherrschenden
blinden Eigensucht, und sein Verzweiflungsschrei verhallt un-
verstanden. Unverstanden, weil ein solches Liebeverlangen
nach seinem ganzen Umfang eben nur von seltensten wenigen
Liebestarken nachempfunden werden kann, unverstanden aber
 
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