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Thode, Henry; Michelangelo; Michelangelo [Contr.]
Michelangelo: kritische Untersuchungen über seine Werke; als Anhang zu dem Werke Michelangelo und das Ende der Renaissance (Band 2) — Berlin: Grote, 1908

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414 Gemälde, Zeichnungen und Entwürfe religiösen Inhaltes

kindes die vollkommen plastische Rundung der Körpertheile
in sanften, unmerklichen Übergängen von tiefen Schatten in
hellstes Licht — jenes tastende Nachfühlen der Formen-
schwellungen, die wir immer wieder als Michelangelos be-
sondere Kunst bewundern. Was will allen diesen überzeugen-
den Erscheinungen gegenüber ein Einwurf bedeuten, wie der
Wickhoffs: „dieses liebe freundliche Kindergesicht wie bei
den Engelchen, die die Assunta in Venedig umschweben, was
hat das gemein mit Michelangelos ernsten, trübsinnigen Kin-
dern?" Ja, möchte ich fragen, hat er denn immer trübselige
Kinder geschaffen? Das ist doch eine ganz vage und dazu
unrichtige Behauptung, die sich ein auf Kenntniss der Kunst
des Meisters Anspruch erhebender Forscher wohl nicht er-
lauben sollte; denn die Sixtinische Decke müsste ihn eines
Anderen belehren. Aber selbst zugegeben, dass ein „freund-
liches" Christkind selten bei Jenem zu finden, warum sollte er
es nicht einmal dargestellt haben? Und, näher zugesehen,
hat dieses Kind, das sich an die Mutter schmiegt, nicht doch
einen sehr ernsten Blick, ist ihm nicht der Ausdruck eines
bedeutungsvollen Sinnens verliehen? Ist es nicht besonders
die anmuthige Lockenzier, die den Eindruck des Freund-
lichen hervorbringt? Wer etwa an dieser Anstoss nehmen
sollte, der betrachte sich die Röthelzeichnung eines lächeln-
den Kinderkopfes in Oxford (Nr. 39. Phot. Br. 79), die bis
jetzt meines Wissens von Niemand, selbst von Berenson nicht,
angezweifelt worden ist, und er wird sich beruhigt sagen,
dass Michelangelo Köpfe, und zwar heitere Kinderköpfe mit
zierlichem Gelock, wie den auf dem Windsorblatte, gemacht hat.
Kurzum, auf dessen Vorderseite hat Michelangelo ge-
zeichnet und auf der Rückseite Sebastiano, in Dessen Besitz
vermuthlich jene Zeichnung, wie so manche andere des Meisters,
sich befand.
Ich stehe am Schlüsse einer Untersuchung, die an sich nicht
schwierig war, wohl aber dem Lesenden mühevoll erscheinen wird.
Wer meinen Hinweisen gewissenhaft folgt, wird, wie ich zu behaupten
wage, sich der von mir gewonnenen Überzeugung nicht zu ent-
ziehen vermögen. Diese lautet: von allen angeführten Zeich-
nungen können nur die eine Lazarusskizze, die Geisse-
lung Christi (vom Christus abgesehen?), der Entwurf
zur Maria in der Heimsuchung auf der Rückseite der
einen Madonnenzeichnung in Windsor, die Madonna
bei Heseltine und die hl. Familie in Oxford (Christ-
church-College), letztere beide aber auch nur mit
 
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