Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Thode, Henry; Michelangelo; Michelangelo [Contr.]
Michelangelo: kritische Untersuchungen über seine Werke; als Anhang zu dem Werke Michelangelo und das Ende der Renaissance (Band 2) — Berlin: Grote, 1908

Citation link:
https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/thode1908bd2/0431

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Zeichnungen für Gemälde Sebastianos del Piombo

415

einem Fragezeichen, Sebastiano zugeschrieben
werden; alle übrigen tragen ihren traditionellen
Namen Michelangelo mit vollem Rechte, ja es befinden
sich unter ihnen Entwürfe von höchster Bedeutung.
Der Übersichtlichkeit wegen fasse ich meine Argumente zu-
sammen.
I. Die Prüfung der selbständigen, nicht auf Michelangelo'sche
Zeichnungen zurückzuführenden Gemälde Sebastianos beweist erstens,
dass ihm, wesswegen er sich eben so oft des Meisters Mithülfe er-
bat, die Fähigkeit, geschlossene, zugleich monumentale und reich
belebte Kompositionen zu schaffen, abging, und zweitens, dass ihm
die Kraft intensiven leidenschaftlichen Seelenlebens nicht verliehen
war. Alle jene Michelangelo zurückgegebenen Zeichnungen aber ver-
rathen höchste Kunst der Komposition und höchste Gefühlsmacht.
Der in ihnen sich äussernde Geist ist nicht allein durchaus ver-
schieden von dem Sebastianos, er ist ihm weitaus überlegen — es
ist derselbe Geist, der aus den Werken Michelangelos zu uns
spricht. Und Äusserlichkeiten sind wohl nachzuahmen, niemals aber
der Geist. Dies ist das vor Allem Entscheidende.
2. Der Vergleich der Zeichnungen einerseits mit den Zeich-
nungen und Werken Michelangelos, andrerseits mit den Gemälden
Sebastianos ergiebt durchweg die Übereinstimmung mit jenen und
die Verschiedenheit von diesen.
a) In der festen, engen Verbindung der Gestalten zu Gruppen
im Sinne des aus einem Marmorblock Gestaltenden (die
Madonnen, die Pietädarstellungen) bei reichster Bewegung und
Gliederung.
b) In den kühnen, komplizirten Bewegungsmotiven: den Drehungen,
Biegungen und Wendungen, durch welche die einzelnen Körper-
theile in Richtungsverschiedenheiten und -konstraste gebracht
werden.
c) In der siegreich das Anatomische beherrschenden, plastisch bis
in alle Einzelheiten nachfühlenden und die Rundung betonen-
den Bildung der Körperformen.
d) In den, von den scharflinigen und spitzigen Sebastiano'schen
abweichenden weichen und vollen Gesichtsformen.
e) In den lebendig grosszügigen, in jedem einzelnen Falle mannich-
faltig und reich bewegten Draperieen, die von eindringlich
plastischer Wirkung sind.
f) In eigenthümlichen Bewegungen der Hände und in Sonderheit
der Finger, die, bisweilen fast manieristisch übertrieben wirkend,
Spreizungen und scharfe Biegungen in den Gelenken, nament-
lich des letzten Fingergliedes zeigen, und als deren charakte-
ristischen Typus man einerseits die Hand auf dem frühen
 
Annotationen