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Der antike Mythus und der plastische Stil.

nur nach seinem eigenen Bilde in lichter Klarheit vorzustellen und
durch genealogische Zusammenhänge sich selbst ihnen zu nähern.
Was vom dichtenden Seher in der naiv sinnlichen produk-
tiven Jugendzeit seines Volkes erblickt ward: der leibhaftige Gott
und Heros, ward zur gemeinsamen Anschauung eines Volkes und
konnte sich als solche bis in die Epoche künstlerischer Kultur er-
halten, weil kein Bruch der Tradition eintrat, weil natürliche Be-
dingungen des Lebens es förderten und weil eben diese Ideale selbst
das Leben gestalteten. Den Körper in Kraft und Schönheit aus-
zubilden, gebot das Vorbild des göttlich Heldenhaften; die grund-
legende Erziehung im Gymnischen, welche das Nackte heiligte,
hing mit dem religiösen Glauben tief innerlich zusammen. Und
wenn sich ihr die musische Bildung gesellte, waren es, im Hinblick
auf die Harmonie des Äußeren und Inneren, die Normen leib-
licher Schönheit: Verhältnissmäßigkeit und Rhythmus, die für das
Geistig-Seelische maaßgebend wurden. Ist doch dieses hellenische
künstlerische Grundgesetz des Maaßes auf die Erscheinung des
Körperlichen, wie es sich in Form und Bewegung eindrucksvoll
darstellt, zurückzuführen, also recht eigentlich ein plastisches. Denn
nur in dem Beschränkten, d. h. dem Körperlichen, ist Maaß zu
finden; das geistige Leben in seiner Unbeschränktheit ist unermeß-
lich. Die vollkommene Schönheit der plastischen Erscheinung bietet
aber nur der nackte Leib dar, und zwar nach der kraftvollen
Bestimmtheit des organischen Gefüges der männliche. In seiner
Wiedergabe, die der griechischen Kunst den vorwiegend männlichen
Charakter verleiht, liegt die höchste, nothwendig zu erstrebende
und einzig volle Befriedigung künstlerischen Verlangens.
DertiefeZusammen hangzwischenmythologischer
Weltanschauung und plastischer Kunst wird hieraus
ersichtlich. Ist der Mythus nichts Anderes als Verdichtung der
Naturphänomene zum Menschenbild, so bedingt er die Herrschaft des
bildnerischen Prinzipes in Kunst und Kultur. Die Kunst, welcher
der Mensch in seiner Leiblichkeit an sich das höchste, ja einzige
Objekt ist und die ihn, greifbar faßlich, dem Gesichtssinn vorführt,
die Plastik, entspricht den Anforderungen des Götterglaubens am
Meisten. Nur der Mythus erweckt aber andrerseits jene höchsten
Vorstellungen des Menschlichen, welche die Phantasie des Bildhauers
zum Schauen und Gestalten des Vollkommenen beflügeln, da hier
das von allen Fesseln historischer und konventioneller Bedingtheit
 
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