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Wandlungen in der Darstellungsweise.

Erregtheit und Bewegung und die sich mehr und mehr lockernde
Symmetrie bei den Athleten, sowie ähnliche Erscheinungen bei den
Bronzefiguren, zu denken.
Die Frage ist: spricht sich hierin eine von Vorneherein gefasste
künstlerische Absicht aus oder ist Michelangelo während der Aus-
führung der Fresken, immer freier und kühner sich entfaltend,
durch bestimmte Rücksichten zu diesen Veränderungen veranlasst
worden ?
Für das Erstere scheinen folgende Erwägungen zu sprechen.
Einmal: der Entwurf für das Ganze der Gemälde an der eigent-
lichen Decke ist doch sicher reiflich durchdacht und insoweit vor
der Anfertigung der Kartons festgestellt worden, dass einerseits die
Kompositionen der Historien ihre Gestaltung gewonnen hatten und
andererseits die Verhältnisse, in denen die Figuren der Propheten
und Sibyllen, sowie der Athleten, zu den angränzenden Historien
stehen, bestimmt waren. Eine solche Verhältnissmässigkeit ist un-
verkennbar;' denn der Sündfluth entsprechen die kleineren, sie
umgebenden Figuren, wie den Schöpfungsszenen die grösseren.
Zweitens: die Zunahme der Dimensionen der Propheten und Sibyllen
ist, wenigstens auf der einen Seite, die mit der Delphica beginnt,
eine allmähliche, d. h. sie wächst von Figur zu Figur. (Auf der
anderen Seite ist die Zunahme keine ganz kontinuirliche, sie
kommt einmal, aber nur ein einziges Mal, im Ezechiel zum Stocken,
der dieselbe Grösse hat, wie die vorangehende Erithraea.) Dies
lässt doch auf eine schon im Gesammtentwurf vorgesehene Ab-
sicht schliessen. Drittens: jene Anordnung der Historien, dass
die grossfigurigen beim Altar, die kleinfigurigen bei der Eingangs-
wand sich befinden, erklärt sich, da die Ansicht der Bilder für den
Eintretenden berechnet ist, ebenso wie die Grössenzunahme der
Sehergestalten, wohl am ersten aus dem Wunsche, ihm eine mög-
lichst deutliche Anschauung zu gewähren.
Spricht dies alles für eine Vorüberlegung, so lassen sich doch
auch nicht leicht wiegende Argumente für die Behauptung, Michel-
angelo habe die Veränderungen erst während der Arbeit vor-
genommen, anführen. Erstens: wohl versteht man das Zunehmen
der Grössenverhältnisse aus einer bestimmten Absicht; warum aber
nimmt auch die Bewegung der einzelnen Athleten zu und warum
schwindet die anfangs gegebene Symmetrie zwischen den beiden
Gestalten eines Paares? Warum werden die Stellungen immer
 
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