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Thode, Henry; Thode, Henry [Editor]
Michelangelo und das Ende der Renaissance (Band 3,2): Der Künstler und seine Werke: Abth. 2 — Berlin: Grote, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.47069#0241
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Der plastische Charakter der Architektur.

Funktion einzelner Formen nachdrücklich akzentuirt, werden solche
Formen gewählt, welche Kraftan- und -abschwellungen besonders
deutlich zur Schau tragen, wie Voluten, Hermen, Segmentgiebel,
Konsolen. Charakteristisch hierfür sind auch bei Rahmungen die
vorspringenden Ecken, die Ohren, welche gleichsam plötzlich ein-
tretende, in Ausweichungen von der Richtung sich kundgebende
Willensäusserungen bezeichnen, das Sicheindrängen eines Rahmens
in einen anderen bei Portalen und Fenstern, wie sie schon hier in
der Libreria auftreten und dann in der Folgezeit in Rom typisch
werden, jenes Sicheinschieben von Balustern, die Durchbrechung
der Hypothenuse des Giebels und viele Besonderheiten in den
Details. Sieht man, wie hier im Vestibül nun gar selbst die Wand
in Bewegung nach vor- und nach rückwärts versetzt wird, so
scheint es, als wohne der anorganischen Materie ein Wille inne,
der nach einer Metamorphose in einen animalischen Organismus
dränge.
Dies heisst nun aber, ästhetisch betrachtet, nichts Anderes, als
dass die eigentliche Gesetzmässigkeit der Architek-
tur, welche in der Verdeutlichung des Ausgleiches
der im Anorganischen wirkenden Kräfte beruht, auf-
gehoben und ihr eine andere, ihr nicht entsprechende,
dem Organischen eigenthümlicheSprache zugemuthet
wird. Statt des Ausgleiches zeigt sich, bei Exuberanz an Kraft-
äusserungen und Gebilden, in Kontrasten und Konflikten eine Dis-
proportion der Bauglieder innerhalb des, wie bei einem solchen
Geiste nicht anders denkbar, grossartig konzipirten Raumganzen.
Fasste er anfangs die Architektur nur als eine Dienerin der Skulptur
auf, so macht er, was auch in der früher erwähnten Anfertigung
zuerst von Modellen, dann erst von im Maass bestimmten Zeich-
nungen der architektonischen Einzel gebilde sehr ersichtlich zu Tage
tritt, sie nun zu einer Art der Plastik selbst, indem er die leb-
lose Materie gleichsam zu vermenschlichen und den baulichen Einzel-
erscheinungen selbständigen, mannichfach individuellen Charakter
zu verleihen trachtet. Alles, was wir noch in der Libreria von
weiteren architektonischen Schöpfungen kennen lernen werden, will
von dem so gewonnenen Standpunkt betrachtet sein und legt für
dessen Richtigkeit Zeugniss ab.
So muss man sich auch an den Gedanken gewöhnen, die
Treppe im Vestibül, wie wir sie jetzt sehen, als eine Schöpfung
 
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