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Lehmbruck, Wilhelm [Ill.]; Trier, Eduard [Oth.]
Wilhelm Lehmbruck - Die Kniende — Werkmonographien zur bildenden Kunst in Reclams Universal-Bibliothek, Band 32: Stuttgart: Reclam, 1958

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https://doi.org/10.11588/diglit.65781#0042
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DER BERICHT EINES AUGENZEUGEN

Eines Tages waren alle Frauenbüsten, Frauentorsos mit
antikem Einschlag beiseitegeräumt, und in der Mitte des
Ateliers stand eine überlebensgroße halb kniende Frauen-
gestalt, die nicht aufhörte. Sie widersprach allem Marees-
schen Geiste und erst recht der Geschlossenheit Maillols.
Im ersten Augenblick glich sie einer gigantischen Glieder-
puppe. Wie ich den Guß finde, fragte Lehmbruck.
Meine Enttäuschung kannte keine Grenzen. Da hatte
einer das unerhörte Glück, die Gelassenheit der Antike zu
erwischen, und gab es für einen originellen Einfall, einen
Sprung ins Blaue hin. Ich hatte ihn für gesichert ge-
halten, und der Ärger über meinen Irrtum vergrößerte
meine Erbitterung auf das geschlitzte Phantom. In mei-
nem Ärger nannte ich es gotisch. Es zerschnitt die Luft
wie ein steiles Riff und zwang den Betrachter, entweder
niederzusinken oder davonzugehen. Ich zog das zweite
vor, sagte ihm aber vorher meine Meinung. Wohin kam
er mit dieser verrückten Gotik? Das Machwerk war alles
Mögliche, nur keine Plastik. — Mochte wohl sein, meinte
er. Natürlich kehrte ich bald zurück. Der Unterschied
zwischen der Art der Frauenbüste und der Knienden be-
ruht auf der Notwendigkeit, wiederzukommen. Die an-
tike Ruhe der Büste gewinnt sofort. Sie steht gesichert
zwischen unsichtbaren Säulen. Es tut gut, so etwas vor
sich zu haben. Man glaubt, sich gegen alle Unbilden des
Dämons zu sichern, und genießt ein Hesperien. Um die
Kniende muß man sich bemühen. Da nicht lediglich ein
Verlangen nach Genuß dazu treibt, kann man zögern,
die Mühe dranzuwenden, mag sich womöglich einbilden,
seiner Ruhe, seinem Ideal die Enthaltung zu schulden.
Der Verlust, wenn man sich enthält, kann so oder so ein-
geschätzt werden. Nur eins ist sicher, ein Hesperien ver-
mag uns dafür zu entschädigen.
Man muß die kniende Gestalt des öfteren sehen, um die
Sprache der Glieder, der erhobenen Hand, die gleich
einer fünfstengeligen Blüte im Äther wächst, der anderen
ruhenden und in der Ruhe atmenden Hand auf dem weit

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