DIE »KNIENDE«
IN DER KUNSTGESCHICHTE
In der „Knienden“ wird nun auch diese Befangenheit
(der älteren Werke. Anm. d. Bearb.) abgelegt. Naiv wird
aus einer Sensibilität, die in ihrer geistigen Einstellung
gotischem Gestalterwesen verwandt ist, die Form ent-
wickelt. Empfindung und Ausdruck gelangen zur Einheit.
Gewaltigstes wird gewagt: spirituelles Erlebnis von wei-
testem Ausmaß, das Begehren des Irdischen nach dem
Überirdischen, das Wehen des Seelischen im Fleisch wird
plastisch körperlich festgelegt. Eine Schlankheit geistert
gespenstig auf, weit über alles menschliche Maß hinaus,
und Stille breitet sich um diese Schlankheit, um dieses
Aufstreben aus dem Endlichen. Bitternis des Sich-
ergeben-müssens grollt wie Schicksalsgewitter um die
Linie, die feierlich aufhallt wie Orgelton ins Gewölbe.
Und wenn unter diesem Drang der Empfindung verbor-
gen der Körper, der für den skulpturalen Gestalter nun
einmal nicht zu tilgender Erdenrest bleibt, in Fluß gerät,
sich streckt und wächst, wenn es im Feuer der Ergriffen-
heit zu einem Schmelzen und Fließen der Masse kommt,
wenn es wie der Nerv im Strebepfeiler aufzuklingen be-
ginnt, dann entstehen wie von selbst jene eigenartig gro-
ßen Figuren, jene in den Stein zurückflutenden Erkennt-
nisse des Metaphysischen.
Paul Westheim, Wilhelm Lehmbruck. 2. Aufl. Potsdam 1922,
Seite 36.
st-
Des Künstlers Zartheit und Tiefe, seine Innigkeit und
Innerlichkeit hatte den ersten Pariser Figuren ihr er-
höhtes Leben und ihre letzte Notwendigkeit nur verhal-
ten gegeben. In der „Knienden“ gewannen diese seeli-
schen Kräfte erst ganz reinen Ausdruck und ihre von
allen Bindungen freie Form. Jede Einzelheit dieser Figur
erscheint von der Empfindungsfülle durchtränkt, von der
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IN DER KUNSTGESCHICHTE
In der „Knienden“ wird nun auch diese Befangenheit
(der älteren Werke. Anm. d. Bearb.) abgelegt. Naiv wird
aus einer Sensibilität, die in ihrer geistigen Einstellung
gotischem Gestalterwesen verwandt ist, die Form ent-
wickelt. Empfindung und Ausdruck gelangen zur Einheit.
Gewaltigstes wird gewagt: spirituelles Erlebnis von wei-
testem Ausmaß, das Begehren des Irdischen nach dem
Überirdischen, das Wehen des Seelischen im Fleisch wird
plastisch körperlich festgelegt. Eine Schlankheit geistert
gespenstig auf, weit über alles menschliche Maß hinaus,
und Stille breitet sich um diese Schlankheit, um dieses
Aufstreben aus dem Endlichen. Bitternis des Sich-
ergeben-müssens grollt wie Schicksalsgewitter um die
Linie, die feierlich aufhallt wie Orgelton ins Gewölbe.
Und wenn unter diesem Drang der Empfindung verbor-
gen der Körper, der für den skulpturalen Gestalter nun
einmal nicht zu tilgender Erdenrest bleibt, in Fluß gerät,
sich streckt und wächst, wenn es im Feuer der Ergriffen-
heit zu einem Schmelzen und Fließen der Masse kommt,
wenn es wie der Nerv im Strebepfeiler aufzuklingen be-
ginnt, dann entstehen wie von selbst jene eigenartig gro-
ßen Figuren, jene in den Stein zurückflutenden Erkennt-
nisse des Metaphysischen.
Paul Westheim, Wilhelm Lehmbruck. 2. Aufl. Potsdam 1922,
Seite 36.
st-
Des Künstlers Zartheit und Tiefe, seine Innigkeit und
Innerlichkeit hatte den ersten Pariser Figuren ihr er-
höhtes Leben und ihre letzte Notwendigkeit nur verhal-
ten gegeben. In der „Knienden“ gewannen diese seeli-
schen Kräfte erst ganz reinen Ausdruck und ihre von
allen Bindungen freie Form. Jede Einzelheit dieser Figur
erscheint von der Empfindungsfülle durchtränkt, von der
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