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Zweites Kapitel.

dustrielle noch die intellectuelle Cultur schreitet in allen ihren Zwei-
gen gleichmässig fort, ja in manchen einzelnen Gebieten finden
wir oft eine grosse Vollkommenheit unter Bedingungen, welche
die Cultur in ihrer Gesammtheit zurückhalten. Wohl ist es wahr,
dass diese Ausnahmen nur selten die allgemeine Regel aufzuheben
vermögen; und der Engländer, welcher zugiebt, dass er nicht so
gut wie der wilde Australier Bäume erklimmen, oder wie der Wilde
in den Wäldern Brasiliens die Fährte des Jagdwilds auffinden oder
mit dem alten Etrusker oder dem modernen Chinesen in der Fein-
heit der Goldschmiedearbeit und Elfenbeinschnitzerei wetteifern
oder die Höhe der classischen griechischen Beredtsamkeit und
Skulptur erreichen kann, wird dennoch im Allgemeinen für sich
eine höhere Stellung als alle diese Rassen in Anspruch nehmen.
Aber wir haben in der That Entwicklungsformen der Wissenschaft
und Kunst in Betracht zu ziehen, welche der Cultur direct zuwider
laufen. Gift heimlich und wirksam zu geben wissen, eine ver-
derbte Literatur zu giftiger Vollkommenheit erhoben, eine erfolg-
reiche Methode zur Hemmung freier Forschung und zur Aechtung
freier Gesinnungen ersonnen zu haben, sind Werke des Wissens
und der Geschicklichkeit, von denen sich schwerlich behaupten
lässt, dass sie zum allgemeinen Besten ihrem Ziele entgegeneilen.
Und so ist, selbst wenn wir intellectuelle und künstlerische Cultur
bei verschiedenen Völkern vergleichen, nicht leicht das Gleichge-
wicht von Gutem und Bösem herzustellen.
Wenn nicht nur Wissenschaft und Kunst, sondern zugleich
sittliche und staatliche Bedeutung Gegenstände der Betrachtung
werden, so wird es noch schwieriger, an einer idealen Skala den
Fortschritt oder Rückschritt der Cultur von Stufe zu Stufe zu mes-
sen. Ja, ein zusammengesetzter geistiger und sittlicher Maassstab
für die menschlichen Verhältnisse ist ein Instrument, welches bis
jetzt kein Forscher gehörig zu handhaben gelernt hat. Selbst wenn
wir zugeben wollen, dass geistiges, sittliches und staatliches Leben
im Ganzen betrachtet zusammen fortschreiten, so ist es doch klar,
dass sie keineswegs mit gleichen Schritten vorrücken. Man kann
es als Pflichtgesetz des Menschen auf Erden betrachten, dass Jeder
darnach streben soll, zu wissen was er lernen kann, und zu han-
deln so gut er’s weiss. Aber die Scheidung dieser beiden grossen
Grundgesetze, jene Trennung von Wissen und Tugend, welche so
vieles Unrecht in der Menschheit erklärt, tritt uns beständig in den
gewaltigen Bewegungen der Civilisation vor Augen. Als ein schla-
 
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