Die Entwicklung der Cultur.
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giösen Gefühl der nordamerikanischen Indianer lesen, so machen
diese Dinge mit Recht Anspruch auf unsere aufrichtige Bewunde-
rung ; aber wir dürfen nicht vergessen, dass sie buchstäblich über-
trieben gastfrei waren, dass ihre Gutmüthigkeit bei einem Auf-
flackern von Zorn in wahnsinnige Wuth umschlug, dass ihre Tapfer-
keit durch grausame und verrätherische Bosheit befleckt ward,
dass ihre Religion sich in einem absurden Aberglauben und nutz-
losen Ceremonien aussprach. Den idealen Wilden des 18. Jahr-
hunderts könnte man dem lasterhaften und frivolen London als
einen lebenden Vorwurf hinstellen; aber bei nüchterner Betrach-
tung der Thatsachen muss man zugeben, dass ein Londoner, wel-
cher versuchen würde ein so grausames Leben zu führen, wie es
der wirkliche Wilde straflos und selbst geachtet führt, ein Ver-
brecher sein würde, den man nur während der kurzen Zwischen-
räume ausserhalb des Gefängnisses seinen wilden Vorbildern nach-
eifern liesse. Die Sittenregeln der Wilden sind real genug, aber
sie sind weit lockerer und nachgiebiger als unsere. Wir können,
denke ich, den oft angewandten Vergleich zwischen Wilden und
Kindern sehr gut sowol auf ihre moralischen wie auf ihre intellec-
tuellen Verhältnisse ausdehnen. Das bessere sociale Leben der
Wilden erscheint in nur unsicherm Gleichgewicht, das nur zu
leicht durch einen leisen Stoss der Noth, Versuchung oder Gewalt
gestört wird, und dann wird es das schlechtere Leben der Wilden,
welches wir aus so vielen traurigen und schrecklichen Beispielen
kennen. Zugleich kann man zugeben, dass viele rohe Stämme ein
Leben führen, um welches manche barbarische Völker sie beneiden
könnten, ja selbst der Auswurf höherer Nationen. Aber dass irgend
ein bekannter wilder Stamm nicht durch eine verständige Civili-
sation verbessert werden könne, das wird wol kein Moralist zu
behaupten wagen; während der allgemeine Verlauf der Unter-
suchung die Ansicht rechtfertigt, dass im Ganzen der civilisirte
Mensch nicht nur klüger und fähiger als der Wildegeworden ist,
sondern auch besser und glücklicher, und dass die Barbaren in
der Mitte zwischen Beiden stehen.
Es möchte vielleicht gerathen scheinen, die gesammte Durch-
schnittscivilisation zweier Völker oder eines Volkes zu verschiede-
nen Zeiten zu vergleichen, indem man jedes, Punkt für Punkt,
zu einer Art von Totalsumme zusammenrechnet, und dann sie
gegen einander ab wägt, ungefähr wie ein Taxator den Werth zweier
Waarenlager vergleicht, mögen sie quantitativ und qualitativ noch
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giösen Gefühl der nordamerikanischen Indianer lesen, so machen
diese Dinge mit Recht Anspruch auf unsere aufrichtige Bewunde-
rung ; aber wir dürfen nicht vergessen, dass sie buchstäblich über-
trieben gastfrei waren, dass ihre Gutmüthigkeit bei einem Auf-
flackern von Zorn in wahnsinnige Wuth umschlug, dass ihre Tapfer-
keit durch grausame und verrätherische Bosheit befleckt ward,
dass ihre Religion sich in einem absurden Aberglauben und nutz-
losen Ceremonien aussprach. Den idealen Wilden des 18. Jahr-
hunderts könnte man dem lasterhaften und frivolen London als
einen lebenden Vorwurf hinstellen; aber bei nüchterner Betrach-
tung der Thatsachen muss man zugeben, dass ein Londoner, wel-
cher versuchen würde ein so grausames Leben zu führen, wie es
der wirkliche Wilde straflos und selbst geachtet führt, ein Ver-
brecher sein würde, den man nur während der kurzen Zwischen-
räume ausserhalb des Gefängnisses seinen wilden Vorbildern nach-
eifern liesse. Die Sittenregeln der Wilden sind real genug, aber
sie sind weit lockerer und nachgiebiger als unsere. Wir können,
denke ich, den oft angewandten Vergleich zwischen Wilden und
Kindern sehr gut sowol auf ihre moralischen wie auf ihre intellec-
tuellen Verhältnisse ausdehnen. Das bessere sociale Leben der
Wilden erscheint in nur unsicherm Gleichgewicht, das nur zu
leicht durch einen leisen Stoss der Noth, Versuchung oder Gewalt
gestört wird, und dann wird es das schlechtere Leben der Wilden,
welches wir aus so vielen traurigen und schrecklichen Beispielen
kennen. Zugleich kann man zugeben, dass viele rohe Stämme ein
Leben führen, um welches manche barbarische Völker sie beneiden
könnten, ja selbst der Auswurf höherer Nationen. Aber dass irgend
ein bekannter wilder Stamm nicht durch eine verständige Civili-
sation verbessert werden könne, das wird wol kein Moralist zu
behaupten wagen; während der allgemeine Verlauf der Unter-
suchung die Ansicht rechtfertigt, dass im Ganzen der civilisirte
Mensch nicht nur klüger und fähiger als der Wildegeworden ist,
sondern auch besser und glücklicher, und dass die Barbaren in
der Mitte zwischen Beiden stehen.
Es möchte vielleicht gerathen scheinen, die gesammte Durch-
schnittscivilisation zweier Völker oder eines Volkes zu verschiede-
nen Zeiten zu vergleichen, indem man jedes, Punkt für Punkt,
zu einer Art von Totalsumme zusammenrechnet, und dann sie
gegen einander ab wägt, ungefähr wie ein Taxator den Werth zweier
Waarenlager vergleicht, mögen sie quantitativ und qualitativ noch