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Drittes Kapitel.

Rassen, welche, wenn nicht der Chronologie, so doch der Stufe
nach frühere Stadien der Civilisation darstellen.
Wenn Sir Walter Scott in dem „Piraten“ erzählt, wie der
Hausirer Bryce sich weigert, Mordaunt den schiffbrüchigen Matrosen
vor dem Ertrinken retten zu helfen, und ihm sogar wegen der
Unüberlegtheit einer solchen Handlung Vorwürfe macht, so weist
er auf einen alten Aberglauben der Shetländer hin. „Bist Du
toll“? sagt der Hausirer, „wo Du so lange in Zetland gelebt hast,
die Rettung eines Ertrinkenden zu wagen? Weisst Du nicht, wenn
Du ihn wieder ans Leben bringst, so wird er gewiss ein todes-
würdiges Verbrechen an Dir begehen“? Fände sich diese un-
menschliche Vorstellung nur in dieser einen Gegend, so könnte
man glauben, ihr liege eine lokale Idee zu Grunde, welche man
nicht mehr erklären könne. Aber wenn ein ähnlicher Aberglaube
bei den St. Kilda-Insulanern und bei den Donauschiffern, bei
französischen und englischen Matrosen, und selbst ausserhalb
Europas und bei minder civilisirten Völkern Erwähnung findet, so
denken wir nicht mehr an lokale Phantasien, sondern sehen uns nach
irgend einem weit verbreiteten Glauben der niederem Cultur um,
der einen solchen Stand der Dinge erklärlich macht. Der Hindu
errettet keinen Menschen, der im heiligen Ganges ertrinkt und die
Insulaner des malayischen Archipels theilen diese grausame An-
schauung1). Von allen Völkern haben die Kamtschadalen das
Verbot in der merkwürdigsten Form. Sie halten es für ein grosses
Vergehen, sagt Krachenninikow, einen Ertrinkenden zu retten; wer
ihn errettet, wird selbst ertränkt2). Stellers Aussagen sind noch
ausserordentlicher und beziehen sich wahrscheinlich nur auf Fälle, wo
der Unglückliche wirklich im Ertrinken begriffen ist: er sagt, wenn
Jemand durch Zufall ins Wasser falle, sei es ein grosses Verbrechen
für ihn, wieder herauszukommen; denn da er zum Ertrinken be-
stimmt sei, so sei es Unrecht, nicht zu ertrinken; deshalb würde
Niemand ihn in seine Wohnung aufnehmen, noch mit ihm sprechen,
noch ihm Nahrung oder eine Frau geben, sondern er gälte als
todt; und selbst wenn Jemand ins Wasser fiele, während andere
dabeistehen, würden sie, weit entfernt ihm zu helfen, ihn gewaltsam
ertränken. Nun vermieden diese Wilden, wie es scheint, Vulkane
wegen der Geister, welche dort wohnen und sich ihre Nahrung

1) Bastian, „Mensch“, Bd. III, S. 210; Ward, „Hindoos“, vol. II, p. 318.
2) Krachenninikow, „Descr. du Kamchatka, Voy. en Siberie“, vol. III, p. 72.
 
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