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Siebentes Kapitel.

wir uns nicht wundern, dass ein so grosser Theil der existirenden
Zahlwörter keine erkennbare Etymologie besitzt. Dies gilt sowohl
bei niederen wie bei hohen Rassen, besonders von den Zahlen
1, 2, 3, 4, als den ersten, welche zu bilden waren und des-
halb den ersten, welche ihre primäre Bedeutung verlieren mussten.
Ueber diese niedrigen Zahlen hinaus bieten die Sprachen der höheren
und niedreren Rassen einen bemerkenswerthen Unterschied dar.
Die Hand- und Fussnumeralien, welchen in wilden Sprachen, wie
bei den Eskimos und Sulus, so vorherrschend und unverkennbar
sind, lassen sich in den grossen Sprachen der Civilisation, wie im
Sanskrit und Griechischen, im Hebräischen und Arabischen, kaum,
wenn überhaupt, erkennen. Diese Verhältnisse stimmen vollständig
mit den Forderungen der Entwicklungstheorie der Sprache überein.
Wir können argumentiren: in verhältnissmässig später Zeit erfanden
die Wilden ihre Handnumeralien, und deshalb ist die Etymologie
solcher Numeralien verständlich geblieben. Aber daraus, dass im
civilisirten Asien und Europa keine solche primitiven Formen vor-
kommen, folgt durchaus noch nicht, dass sie dort nicht in fernen
Zeiten existirt haben; sie können seitdem wie Kieselsteine im
Strome der Zeit abgerollt und zertrümmert sein, bis ihre ursprüng-
liche Gestalt nicht mehr ermittelt werden konnte. Endlich steht
in gleicher Weise bei wilden und civilisirten Rassen das allgemeine
Gerüst der Zählkunst als ein bleibendes Denkmal einer uralten
Cultur da. Dieses Gerüst, das Universalschema des Rechnens
nach Fünfen, Zehnen und Zwanzigen, zeigt, dass unserer ganzen
arithmetischen Wissenschaft das Verfahren der Kinder und der
Wilden, an Fingern und Zehen zu zählen, zu Grunde liegt. Zehn
scheint die bequemste arithmetische Basis gewesen zu sein, welche
auf Handzählen beruhende Systeme dargeboten haben, aber zwölf
würde sich besser geeignet haben, und die duodecimale Arithmetik
ist in der That ein Einspruch gegen die weniger bequeme, jetzt
gewöhnlich gebräuchliche decimale Arithmetik. Es ist dies einer
der nicht ganz ungewöhnlichen Fälle, dass eine hohe Civilisation
deutliche Spuren ihres untergeordneten Ursprungs im einstmaligen
barbarischen Leben zeigt.
 
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