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Neuntes Kapitel.

ein Leben zurückführt, wie es seine Zuhörer in sich selbst fühlen,
und so mit weitfliegender Phantasie den Grundsatz durchführt: „Der
Mensch ist das Mass aller Dinge.“ Ha man nur den Schlüssel zu
diesem mythischen Dialekt gefunden, so werden sich die verwor-
renen, bunten Ausdrücke desselben bald in die Realität übertragen,
und es wird sich zeigen, wie weit die Sage mit ihren sympathischen
Fictionen von Krieg, Liebe, Verbrechen, Abenteuer, Verhängniss,
nur die ewige Geschichte des täglichen Lebens erzählt. Die aus
jenen endlosen Analogien zwischen dem Menschen und der Natur,
welche die Seele aller Dichtung bilden, zu jenen halbmenschlichen
Erzählungen, welche uns noch immer so voll unverwelkten Lebens
und voller Schönheit erscheinen, umgewandelten Mythen sind die
Meisterwerke einer Kunst, die vielmehr der Vergangenheit als der
Gegenwart angehört. Die Entwicklung der Sage ist durch die
Wissenschaft gehemmt worden, sie liegt nach Umfang und Bedeu-
tung im Sterben — ja sie liegt nicht nur im Sterben, sondern ist
schon halb todt und die Forscher sind beschäftigt, sie zu zerglie-
dern. In dieser Welt muss man thun, was man kann, und wenn
ein moderner Mensch die Sage nicht mehr wie seine'Vorfahren em-
pfinden kann, so kann er sie doch wenigstens analysiren. Es giebt
eine Art intellectueller Grenze, innerhalb deren sich Derjenige bewegen
muss, der mit der Sage sympathisiren will, während Derjenige, der
sie erforschen will, draussen bleiben muss, und es ist unser Glück, dass
wir in der Nähe dieser Grenzlinie leben und nach Belieben aus- und
eingehen können. Europäische Gelehrte können noch einigermassen
den Glauben der Griechen oder Azteken oder Maoris, wie er sich
in ihren Mythen ausspricht, verstehen und sie gleichmässig ohne
die Bedenken solcher Leute, in deren Augen solche Erzählungen
Geschichten, ja sogar heilige Geschichten sind, vergleichen und
auslegen. Wenn das ganze Menschengeschlecht auf derselben
Culturstufe wie wir stände, so würde es uns gewiss schwierig-
sein, uns Stämme in dem Geisteszustände vorzustellen, dem die
erste Bildung der Naturmythen angehört, ebenso wie es uns jetzt
schwer wird, uns ein Bild von einem Zustande der Menschheit
zu machen, der noch niedriger ist als wir irgend einen wirklich
gefunden haben. Aber die verschiedenen Grade der jetzt bestehen-
den Civilisation stellen gleichsam die Meilensteine eines langen Weges
der Geschichte dar, und zu Millionen leben noch Wilde und Barbaren,
welche wie einstmals in rohen alterthümlichen Formen die frühesten
mythischen Naturdarstellungen des Menschen hervorbringen.
 
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