Mythologie
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Ereignisse sagenhaften oder historischen Personen zuschreiben, auf
Realisirung phantastischer Metaphern beruhende Mythen und zum
Zwecke der moralischen, socialen und politischen Belehrung ge-
bildete oder zugestutzte Mythen.
Das Verlangen der Menschen, die Ursachen zu kennen, die
bei jedem Vorgänge, dessen er Zeuge ist, im Spiele sind, die Gründe,
warum Alles, was er sieht, so ist, wie es ist, und nicht anders,
ist kein Erzeugniss höherer Civilisation, sondern ein charakteristi-
sches Merkmal seiner Rasse bis zu ihren niedrigsten Entwicklungs-
stufen hinab. Schon bei rohen Wilden finden wir einen Wissens-
durst, dessen Befriedigung einen beträchtlichen Theil der Zeit in
Anspruch nimmt, welche nicht durch Krieg oder Jagd, Essen oder
Schlafen ausgefüllt ist. Selbst für den Botokuden oder Australier
ist die tägliche Erfahrung eine Quelle wissenschaftlicher Speculation:
er hat gelernt, bestimmte Handlangen auszuführen, auf die bestimmte
Resultate folgen, andere Handlungen vollführen und auch ihnen
Resultate folgen zu sehen, aus dem Resultat auf die vorhergehende
Handlung zurückzuschliessen und diesen Schluss durch die That-
sache bestätigt zu finden. Hat er eines Tages gesehen, dass ein
Hirsch oder ein Känguruh im weichen Boden Fährten zurücklässt,
und am nächsten Tage neue Fährten gefunden und daraus den
Schluss gezogen, dass so ein Thier dieselben gemacht haben muss,
ist er dann der Spur gefolgt und hat das Wild erlegt, so weiss er,
dass er eine Geschichte vergangener Ereignisse durch Schlussfolge-
rungen aus ihren Resultaten reconstruirt hat. Aber auf den
frühesten Stufen der Erkenntniss besteht eine ungeheure Verwirrung
zwischen der wirklichen Ueberlieferung von Ereignissen und der
idealen Reconstruction derselben. Bis auf den heutigen Tag gehen
überall auf der Erde Geschichten um, welche als allbekannte wirk-
liche Thatsachen erzählt werden; aber bei einer kritischen Prüfung
derselben stellt sich heraus, dass dieselben reine Schlussfolgerungen
und zwar oft durchaus illusorische, aus Thatsachen sind, welche
den Erfindungstrieb irgend eines neugierigen Untersuchers ange-
stachelt haben. So berichtet z.B. ein Schriftsteller in den vor ungefähr
achtzig Jahren erschienenen „Asiatick Researches“ als historische
Thatsache, die man ihm mitgetheilt hatte, folgendermassen über
die Andamanen-Insulaner: ,,Bald nachdem die Portugiesen den
Weg nach Indien um das Cap der Guten Hoffnung entdeckt hatten,
ging eines ihrer Schiffe, an dessen Bord sich eine Anzahl von
Mozambique-Negern befand, bei den Andamanen Inseln, die damals
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Ereignisse sagenhaften oder historischen Personen zuschreiben, auf
Realisirung phantastischer Metaphern beruhende Mythen und zum
Zwecke der moralischen, socialen und politischen Belehrung ge-
bildete oder zugestutzte Mythen.
Das Verlangen der Menschen, die Ursachen zu kennen, die
bei jedem Vorgänge, dessen er Zeuge ist, im Spiele sind, die Gründe,
warum Alles, was er sieht, so ist, wie es ist, und nicht anders,
ist kein Erzeugniss höherer Civilisation, sondern ein charakteristi-
sches Merkmal seiner Rasse bis zu ihren niedrigsten Entwicklungs-
stufen hinab. Schon bei rohen Wilden finden wir einen Wissens-
durst, dessen Befriedigung einen beträchtlichen Theil der Zeit in
Anspruch nimmt, welche nicht durch Krieg oder Jagd, Essen oder
Schlafen ausgefüllt ist. Selbst für den Botokuden oder Australier
ist die tägliche Erfahrung eine Quelle wissenschaftlicher Speculation:
er hat gelernt, bestimmte Handlangen auszuführen, auf die bestimmte
Resultate folgen, andere Handlungen vollführen und auch ihnen
Resultate folgen zu sehen, aus dem Resultat auf die vorhergehende
Handlung zurückzuschliessen und diesen Schluss durch die That-
sache bestätigt zu finden. Hat er eines Tages gesehen, dass ein
Hirsch oder ein Känguruh im weichen Boden Fährten zurücklässt,
und am nächsten Tage neue Fährten gefunden und daraus den
Schluss gezogen, dass so ein Thier dieselben gemacht haben muss,
ist er dann der Spur gefolgt und hat das Wild erlegt, so weiss er,
dass er eine Geschichte vergangener Ereignisse durch Schlussfolge-
rungen aus ihren Resultaten reconstruirt hat. Aber auf den
frühesten Stufen der Erkenntniss besteht eine ungeheure Verwirrung
zwischen der wirklichen Ueberlieferung von Ereignissen und der
idealen Reconstruction derselben. Bis auf den heutigen Tag gehen
überall auf der Erde Geschichten um, welche als allbekannte wirk-
liche Thatsachen erzählt werden; aber bei einer kritischen Prüfung
derselben stellt sich heraus, dass dieselben reine Schlussfolgerungen
und zwar oft durchaus illusorische, aus Thatsachen sind, welche
den Erfindungstrieb irgend eines neugierigen Untersuchers ange-
stachelt haben. So berichtet z.B. ein Schriftsteller in den vor ungefähr
achtzig Jahren erschienenen „Asiatick Researches“ als historische
Thatsache, die man ihm mitgetheilt hatte, folgendermassen über
die Andamanen-Insulaner: ,,Bald nachdem die Portugiesen den
Weg nach Indien um das Cap der Guten Hoffnung entdeckt hatten,
ging eines ihrer Schiffe, an dessen Bord sich eine Anzahl von
Mozambique-Negern befand, bei den Andamanen Inseln, die damals