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Wehmer, Carl; Wagner, Leonhard
Proba centum scripturarum: ein Augsburger Schriftmusterbuch aus dem Beginn des 16. Jahrhunderts (Begleittext): Leonhard Wagners Proba centum scripturarum — Leipzig: Insel-Verlag, 1963

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https://doi.org/10.11588/diglit.55646#0010
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man sich vergegenwärtigen, wenn man die Proba in ihrer Eigen-
tümlichkeit erfassen will.

Zunächst wird es von Nutzen sein, die hier zum ersten Mal vollstän-
dig wiedergegebene Handschrift aufmerksam und im einzelnen zu
betrachten:
Die Proba besteht aus 5 3 Pergamentblättern, genauer gesagt aus dem
Titelblatt (dessen leeres und hier nicht mit gezähltes Gegenblatt in
den Rückdeckel des Einbands eingeklebt ist) und aus 26 Doppel-
blättern, die eine einzige Lage bilden, so daß Blatt 2 mit dem letzten
Blatt (53) zusammenhängt, Blatt 3 mit Blatt 52, Blatt 4 mit 51 usw.
1 Das erste Blatt enthält auf der Vorderseite den von Wagner geschrie-
benen Titel in lateinischer und darunter in deutscher Sprache: »Hun-
dert Schriften von ainer hand • der kaine ist wie die ander • etc •<
Hierunter steht ein Zeichen (Wolfsangel), das, entsprechend alten
Steinmetzzeichen und sonstigen Handwerksmarken, als ein von Leon-
hard Wagner geführtes Signet zu deuten ist. Es kommt auch unter
dem Bildnis des am Schreibpult sitzenden Leonhard Wagner in dem
1515 für das Kloster Lorch geschriebenen und von Wagner mit Mu-
siknoten versehenen Graduale vor: ein Wappenschild mit der Wolfs-
angel, links und rechts neben ihr die Buchstaben L und W.z
Zwischen dem lateinischen und dem deutschen Titel der Proba hat
jemand die Nachricht vom Tode ihres Schreibers vermerkt: >Obiit
idem devotus et religiosus pater Leonhardus Wagner scriptor huius
libri. Anno domini Millesimo quingentesimo vicesimo secundo kalen-
das Januarij< (Es starb dieser getreue und fromme Pater Leonhard
Wagner, der Schreiber dieses Buches, im Jahre des Herrn 1522 am
1. Januar). Die erhaltenen Totengedenkbücher (Nekrologien) von
Sankt Ulrich und Afra in Augsburg, von Irsee und vom Schotten-
kloster in Wien verzeichnen den Tod Wagners gleichfalls für den
Neujahrstag. Der sehr sorgfältig geschriebene Eintrag auf dem Titel-
blatt der Proba dürfte, nach dem Charakter der Schrift zu urteilen,
sehr bald nach Wagners Tod und wohl in Sankt Ulrich und Afra
hinzugefügt worden sein.
Blättert man das Titelblatt um, dessen Rückseite leer ist, so hat man
das eigentliche Buch vor sich, das, wie bereits gesagt, aus einer ein-

zigen Lage von 26 Doppelblättern (=52 Blättern = 104 Seiten) be-
steht. Auf diese buchtechnische Einrichtung der Proba ist später ein-
zugehen; zunächst beschreibe ich ihr Aussehen und ihren Inhalt:
Auf der Vorderseite des zweiten Blattes ist in Federzeichnung der nim- 3
bierte Doppeladler Maximilians I. unter der Kaiserkrone dargestellt,
daneben, in römischen Kapitalbuchstaben, eine an den Herrscher ge-
richtete Widmung. Ihr Text lautet (unter Kürzung der formelhaften
und für das Verständnis entbehrlichen Elemente) in deutscher Über-
setzung : »Dem römischen Kaiser Maximilian, dem erlauchten Sproß
der Sippe des heiligen Ulrich, überreicht ehrerbietig Bruder Leon-
hard Wirstlin, Knecht des Klosters des genannten Ulrich zu Augs-
burg, eine Sammlung von hundert von einer Hand aufgezeichneten
Schriftarten, damit er sie verbessern und korrigieren möge. <
Unter diesem Widmungstext stehen noch zwei in einer weniger feier-
lichen Schrift geschriebene Distichen, in denen das Buch aufgefor-
dert wird, vor dem Throne des Herrschers dessen Verzeihung für
alle Irrtümer und Nachsicht mit den ermüdeten Händen des Schrei-
bers zu erbitten. Diese Bitte war wohl nicht ernster gemeint als die
Aufforderung an den Kaiser im Widmungstext, die Proba zu emen-
dieren und zu korrigieren. Notwendig wäre freilich eine mit Nach-
sicht geübte Korrektur bereits auf derselben Seite gewesen, wenn
man sieht, daß der Schreiber im Worte >scripturarum< das erste r
vergessen hat, >humillime< mit einem 1 schrieb, um dafür fälschlich
in der nächsten Zeile in >offert< das e zu verdoppeln.
Auf der Rückseite dieses Blattes ist in einem Rahmen der Kreuzes- 4
titel in hebräischer, griechischer und lateinischer Sprache dargestellt.
Er ist eine Nachbildung der Inschrift, die nach Johannes 19,19
Pilatus am Kreuze hatte anheften lassen. Ihre Wiedergabe findet man
in einigen Einblattdrucken des 15. und 16. Jahrhunderts,5 und sie
war gewiß aus diesen und anderen Quellen den Zeitgenossen Wagners
wohlvertraut. Auf dem mit Blatt 2 zusammenhängenden Blatt 53 105
befindet sich auf der Rectoseite ebenfalls eine graphische Illustration:
ein Grundriß des aus der antiken Sage bekannten Tabyrinths, in
dessen Innerem der Minotaurus haust. Das Thema war im Mittel-
alter wegen seines Symbolgehaltes beliebt und begegnet vielfach in
Darstellungen.4 Eine Augsburger Handschrift aus der Zeit Wagners
 
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