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Wehmer, Carl; Wagner, Leonhard
Proba centum scripturarum: ein Augsburger Schriftmusterbuch aus dem Beginn des 16. Jahrhunderts (Begleittext): Leonhard Wagners Proba centum scripturarum — Leipzig: Insel-Verlag, 1963

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https://doi.org/10.11588/diglit.55646#0009
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Wer DIE >Proba centum SCRIPTURARUM< durchblättert, findet auf
Seite 29, auf der die >Clippalicana galeata< als fünfundzwanzigste der
einhundert von Leonhard Wagner gefertigten Schriftproben zu sehen
ist, eine Schilderung von der Eroberung Konstantinopels durch die
Türken im Jahre 1453: >Es war ein so großes Morden und ein so
jämmerliches Blutvergießen, daß überall Bäche von Blut durch die
ganze Stadt rannen.« Mit diesen Worten schließt der kurze Bericht.
Wagner hatte ihn sich einmal beim Lesen notiert, denn der Fall von
Byzanz war eines der Ereignisse der großen Geschichte, die ihn und
seine Zeitgenossen beunruhigten und sehr beschäftigten. Er selbst
war ein Jahr nach diesem Geschehnis - 1454 — in Schwabmünchen
geboren, das zwischen Wertach und Lech etwa zwanzig Kilometer
südwestlich von Augsburg liegt. Im gleichen Jahre wurden in Mainz
die ersten Ablaßbriefe und die >Mahnung der Christenheit wider die
Türken« gedruckt, und es war damit entschieden, daß im literarischen
Bereich sehr bald gegossenes Blei und Druckerschwärze den Feder-
kiel und die Tinte ablösen würden. Als der achtzehnjährige Leonhard
Wagner in Augsburg im Benediktinerstift Sankt Ulrich und Afra
Profeß ablegte, konnte er bereits die neue Schwarze Kunst aus näch-
ster Nähe kennenlernen, denn Sixtus Sauerloch war gerade dabei,
1472 auf Geheiß des Abtes Melchior von Stamhaim in Sankt Ulrich
und Afra eine Druckwerkstätte einzurichten. Auf ihren Pressen
sollten die Bücher entstehen, die der unternehmungsfreudige Abt
nutzen wollte, um durch Tausch andere Werke für die Erweiterung
der eigenen Stiftsbibliothek einzuhandeln. Es wurde nicht viel
daraus, doch wider Erwarten geschah etwas anderes. Die Druckerei
wurde zwar nach wenigen Jahren stillgelegt, in der Schreibstube des
Klosters aber begann eine letzte und erstaunliche Blütezeit der Kalli-
graphie, die fast ein halbes Jahrhundert Dauer haben sollte. Es war
die Schaffenszeit des Schreibers Leonhard Wagner. Am 2. März
1480 beendete er seine erste Handschrift, von der wir wissen: ein
Meßbuch. Wagner starb am 1. Januar 1522. Eine von ihm selbst auf-
gezeichnete Liste1 zählt die neunundvierzig Arbeiten auf, die in den
rund vierzig Jahren seit 1480 aus seinen kunstbegabten Händen her-

Die Notenziffern im Text beziehen sich auf die Anmerkungen, die Ziffern am Rande
auf die Seitenzählung des Faksimilebandes.

vorgingen. Nur sehr wenige der Manuskripte sind noch vorhanden.
Sie wären heute wohl unbeachtet, wenn Wagner nicht noch ein
fünfzigstes Buch geschrieben hätte: die Proba centum scripturarum,
eine Sammlung von hundert Schriftproben, die dem Kaiser Maxi-
milian I. gewidmet war. Er hat sie wohl nie erhalten, jedenfalls nicht
behalten. Die Proba blieb vielmehr nach dem Tode Wagners im Stift
Sankt Ulrich und Afra. Nach der Aufhebung des Klosters im Jahre
1802 war sie für mehr als ein Jahrhundert verschollen, bis sie kurz
vor dem ersten Weltkrieg durch Alfred Schröder in der Ordinariats-
bibliothek zu Augsburg wieder aufgefunden wurde. Aber in den vier-
hundert Jahren ihrer Existenz war sie niemals vergessen worden,
denn eine Eigentümlichkeit hat sie davor bewahrt: die hundert Na-
men, die unter den hundert Schriftproben der Proba standen, waren
in die wissenschaftliche Literatur eingegangen und hatten auch im
Glossar der mittellateinischen Sprache von Du Cange Aufnahme ge-
funden. So kam es, daß die Kunde von der seltsamen Handschrift,
die einhundert verschiedene Schriftarten enthalten sollte, nicht ver-
lorenging, sondern immer von neuem die berufliche Wißbegierde der
Philologen, Paläographen und Historiker reizte. Wenn wir nun heute
am wiedergefundenen Original durch den Vergleich der Schriftbilder
mit den zugehörigen Schriftnamen diese Wißbegierde befriedigen
können, müssen wir allerdings ehrlicherweise zugeben, daß gerade die
Namen wohl der wertloseste und gewiß der unergiebigste Bestand-
teil des Wagnerschen Schriftmusterbuches sind. Sehr viel bemerkens-
werter sind die Schriftarten selbst, und noch größeres Gewicht ge-
winnt das Unternehmen Wagners, dessen Ergebnis in der Proba vor
uns liegt, durch seine geschichtlichen Zusammenhänge und seine be-
sonderen und einmaligen Umstände. Die Proba ist, wenn man sie
recht besieht, ein verspätetes und unzeitgemäßes Buch; denn als
Handschrift entstand sie in einem geschichtlichen Augenblick, der
über ein halbes Jahrhundert nach der Erfindung des Buchdrucks für
ein Werk wie die Proba nicht mehr zeitgerecht war. Und trotzdem
konnte sie nur zu diesem Zeitpunkt, nur in Augsburg, nur in Sankt
Ulrich und Afra und nur im Gedanken an Kaiser Maximilian und in
Kenntnis seiner ebenso dilettantischen wie großartigen künstlerischen
und bibliophilen Liebhabereien entstehen. Diese Gegebenheiten muß
 
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