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dieselbe schwungvolle, echt Dürersche Strichführung zeigt bei aller Unbeholfenheit die
hier abgebildete Londoner Enthauptung.
Gewiß machen gerade die Hamburger Zeichnung, ebenso wie das reitende Paar,
die schreitende Frau bei Bonnat und die Madonnen in Erlangen, in Berlin und im Louvre
deutlich, wie viel Dürer von Gepflogenheiten Schongauerscher Zeichenweise angenommen
hat, und namentlich wenn man dem das frühe Dokument der Bremer Zeichnung
entgegenstellt. Es zeigt sich, wie er auch zunächst eine Konturzeichnung anlegt und
für die Binnenzeichnung die bei Schongauer so beliebten langen Striche, die in Häkchen
oder Punkte auslaufen, verwendet. Dann werden mit dunklen Kreuzschraffierungen
oder locker aneinander gereihten Häkchen die Flächen durchmodelliert. Und man ver-
gleiche die Gewandbehandlung auf einer dieser Zeichnungen, etwa der schreitenden Frau
bei Bonnat, mit der des Basler Hieronymus-Holzschnitts von 1492, man wird finden,
die zeichnerische Behandlung ist im großen und ganzen dieselbe. Eins spricht für
das andere.
Schongauersche Nachwirkungen machen sich noch längere Zeit an Dürers
Werken bemerkbar. Wir wissen auch von Zeichnungen Schongauers, die er besessen
hat, und von denen eine, die er selbst handschriftlich bezeichnet haben soll, in das
British Museum gelangt ist.1) Deutlich zeigen seinen Einfluß die frühen Kupferstiche.
Unter ihnen ist es besonders die Madonna mit der Heuschrecke (B. 44), die ihrer Strich-
führung nach den Zeichnungen der Wanderschaft am nächsten steht und ganz von
Schongauer inspiriert erscheint.2) Auf ihre enge Verwandtschaft mit den Madonnen-
zeichnungen in Erlangen und Berlin ist ja schon öfter hingewiesen worden. Man
fühlt sich bei der (etwas verworrenen) Technik und Einzelheiten (z. B. dem Kopf
Josefs, vgl. Lehrs 31) auch unbestimmt an den Hausbuch-Meister erinnert.
Der Stich ist, wie ich glaube, der früheste, den wir von Dürer besitzen; denn
den ihm zugeschriebenen „Gewalttätigen“ (B. 92), der eine primitive Technik aufweist,
vermag ich nicht als eine Arbeit seiner Hand anzuerkennen. Wahrscheinlich ist die
Madonna noch während oder unmittelbar nach der Wanderschaft geschaffen.
Überblickt man die Werke Dürers, die um die Zeit der Wanderschaft entstanden
sein müssen, so tritt einem diese Zeit als eine Periode unsicheren Suchens und Schwankens
entgegen. Es sind Äußerungen eines kindlichen, schmiegsamen Temperamentes, das
sich in der gotischen Formenwelt einzuleben sucht, weit entfernt von jugendlichem
Ungestüm und genialischen Ausartungen. Ruhige Beschaulichkeit kennzeichnet diese
Epoche von Dürers Lebensweg. Bedeutend, charakteristisch, lebensvoll ist er da, wo
er sich unmittelbar an die Natur hält wie bei den Bildnissen, ln dem lebendigen
Organismus entdeckte sein feines Künstlerauge einen Mikrokosmus, der eine lebendige,
temperamentvolle Wiedergabe erheischte; und die Hand gab sich nicht willenlos an
ein starres Formenschema spätgotisch-fränkischer Stilistik hin. Von dieser machte er
sich der Wirklichkeit gegenüber bis zu einem gewissen Grade los und schuf sich eine
eigene neue Ausdrucksweise, die er zum Teil von der unmittelbaren Anschauung
ableitete. In seinen Phantasieschöpfungen lehnte er sich an Schongauersche Formideale
an. Sie haben etwas Zierhaftes; und die schwellendere Modulation Schongauerscher
’) Vgl. Colvin, Jahrb. d. kgl. preuß. Kunsts., VI S. 69ff.
2) Auch der verstorbene feine Dürer-Kenner, S. R. Köhler: A chronologicai Catalogue of the
engravings . . . of A. Dürer, New York 1897, S. XVI, schreibt von dieser Madonna: she Stands apart
as regards the design, in consequence, no doubt of the influence of Schongauer which is apparent in it.
dieselbe schwungvolle, echt Dürersche Strichführung zeigt bei aller Unbeholfenheit die
hier abgebildete Londoner Enthauptung.
Gewiß machen gerade die Hamburger Zeichnung, ebenso wie das reitende Paar,
die schreitende Frau bei Bonnat und die Madonnen in Erlangen, in Berlin und im Louvre
deutlich, wie viel Dürer von Gepflogenheiten Schongauerscher Zeichenweise angenommen
hat, und namentlich wenn man dem das frühe Dokument der Bremer Zeichnung
entgegenstellt. Es zeigt sich, wie er auch zunächst eine Konturzeichnung anlegt und
für die Binnenzeichnung die bei Schongauer so beliebten langen Striche, die in Häkchen
oder Punkte auslaufen, verwendet. Dann werden mit dunklen Kreuzschraffierungen
oder locker aneinander gereihten Häkchen die Flächen durchmodelliert. Und man ver-
gleiche die Gewandbehandlung auf einer dieser Zeichnungen, etwa der schreitenden Frau
bei Bonnat, mit der des Basler Hieronymus-Holzschnitts von 1492, man wird finden,
die zeichnerische Behandlung ist im großen und ganzen dieselbe. Eins spricht für
das andere.
Schongauersche Nachwirkungen machen sich noch längere Zeit an Dürers
Werken bemerkbar. Wir wissen auch von Zeichnungen Schongauers, die er besessen
hat, und von denen eine, die er selbst handschriftlich bezeichnet haben soll, in das
British Museum gelangt ist.1) Deutlich zeigen seinen Einfluß die frühen Kupferstiche.
Unter ihnen ist es besonders die Madonna mit der Heuschrecke (B. 44), die ihrer Strich-
führung nach den Zeichnungen der Wanderschaft am nächsten steht und ganz von
Schongauer inspiriert erscheint.2) Auf ihre enge Verwandtschaft mit den Madonnen-
zeichnungen in Erlangen und Berlin ist ja schon öfter hingewiesen worden. Man
fühlt sich bei der (etwas verworrenen) Technik und Einzelheiten (z. B. dem Kopf
Josefs, vgl. Lehrs 31) auch unbestimmt an den Hausbuch-Meister erinnert.
Der Stich ist, wie ich glaube, der früheste, den wir von Dürer besitzen; denn
den ihm zugeschriebenen „Gewalttätigen“ (B. 92), der eine primitive Technik aufweist,
vermag ich nicht als eine Arbeit seiner Hand anzuerkennen. Wahrscheinlich ist die
Madonna noch während oder unmittelbar nach der Wanderschaft geschaffen.
Überblickt man die Werke Dürers, die um die Zeit der Wanderschaft entstanden
sein müssen, so tritt einem diese Zeit als eine Periode unsicheren Suchens und Schwankens
entgegen. Es sind Äußerungen eines kindlichen, schmiegsamen Temperamentes, das
sich in der gotischen Formenwelt einzuleben sucht, weit entfernt von jugendlichem
Ungestüm und genialischen Ausartungen. Ruhige Beschaulichkeit kennzeichnet diese
Epoche von Dürers Lebensweg. Bedeutend, charakteristisch, lebensvoll ist er da, wo
er sich unmittelbar an die Natur hält wie bei den Bildnissen, ln dem lebendigen
Organismus entdeckte sein feines Künstlerauge einen Mikrokosmus, der eine lebendige,
temperamentvolle Wiedergabe erheischte; und die Hand gab sich nicht willenlos an
ein starres Formenschema spätgotisch-fränkischer Stilistik hin. Von dieser machte er
sich der Wirklichkeit gegenüber bis zu einem gewissen Grade los und schuf sich eine
eigene neue Ausdrucksweise, die er zum Teil von der unmittelbaren Anschauung
ableitete. In seinen Phantasieschöpfungen lehnte er sich an Schongauersche Formideale
an. Sie haben etwas Zierhaftes; und die schwellendere Modulation Schongauerscher
’) Vgl. Colvin, Jahrb. d. kgl. preuß. Kunsts., VI S. 69ff.
2) Auch der verstorbene feine Dürer-Kenner, S. R. Köhler: A chronologicai Catalogue of the
engravings . . . of A. Dürer, New York 1897, S. XVI, schreibt von dieser Madonna: she Stands apart
as regards the design, in consequence, no doubt of the influence of Schongauer which is apparent in it.