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Winckelmann, Johann Joachim; Borbein, Adolf Heinrich [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz [Hrsg.]; Deutsches Archäologisches Institut [Hrsg.]; Winckelmann-Gesellschaft [Hrsg.]; Balensiefen, Lilian [Mitarb.]
Schriften und Nachlaß (Band 6,2): Monumenti antichi inediti spiegati ed illustrati: Roma 1767; Kommentar — [Darmstadt]: von Zabern, 2014

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Volume Primo: A sua Emmineza, Indicazione. Prefazione, Trattato preliminare. Kommentar
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https://doi.org/10.11588/diglit.58930#0092
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Kommentare zu S. 1-132

eines Sohns des letzten Atheniensischen Königs Codrus. Hier gründeten sie in dem Landstriche, der von ihnen Ionien genannt wurde,
Ephesus, Clazomenae, Samos und andere Städte. Die Dorier, welche sich des Peleponnes bemächtigt hatten, übeten weder Künste noch
Wissenschaften, sondern trieben nur den Feldbau; andere Theile von Griechenland blieben verheert, so daß die Küsten des Meeres, da
Handel und Schiffahrt lag, beständig von Seeräubern heimgesucht wurden, und die Einwohner sich genöthigt sahen, sich von dem
Meere zu entfernen und die schönsten Länder unbebaut zu lassen. Die inneren Gegenden genossen kein besseres Schicksal: denn die
Einwohner vertrieben einander aus ihren Wohnsitzen und es fehlte ihnen daher, da man beständig bewaffnet gehen mußte, die zur
Bebauung der Landes und zur Ausbildung der Künste nothwendige Ruhe.
§. 11. In solchen Umständen befand sich damals und noch einen langen Zeitraum hindurch Griechenland, während [56] sich
die Einwohner in dem ruhigen und arbeitsamen Hetrurien vor allen Völkern von Italien in Achtung setzten und daher sowohl im
Tyrrhenischen als im Ionischen Meere ohne Schwierigkeit den ganzen Handel an sich zogen, welchen sie durch ihre Kolonieen in den
fruchtbarsten Inseln des Archipelagus, und sonderlich in der Insel Lemnos festigten.
Von der Hetrurischen Kunst der Zeichnung an sich.
§. 12. Was ferner die Kunst der Zeichnung betrift, so bildete sie sich bey den Hetruriern auf eben diese Art, wie sie aus dem Dunkel der
barbarischen Jahrhunderte nach dem Wiederaufleben der Wissenschaften sich auß neue erhob und vervollkommnete. Die Zeichnung,
welche die Nachahmung der Natur zum Gegenstände hat, begann und machte die ersten Schritte immer unter Leitung der Natur.
Aber es ist ebenfalls immer geschehen, daß sie von der Natur abwich, ihren Spuren zu folgen unterließ und sich mehr und mehr von
ihr entfernte, bis sie, endlich gewahrend, sie habe die rechte Straße verfehlt, sich von neuem zu ihrer alten Führerin wandte und zu den
Grundsätzen zurückkehrte, von welchen sie ausgegangen war. Diese unabänderliche Erfahrung hat sich auch durch die Zeichnung
der Hetrurischen Künstlere bestätigt.
Erste Versuche.
§. 13. Die ältesten von den Hetrurischen Künstlern verfertigten Figuren, sindgrößtentheils hölzer- [57] nen Puppen ähnlich und
können nicht für Nachahmungen der beseelten Natur, sondern der im Gerippe dargestellten menschlichen Gestalt gelten. Eine solche
Zeichnung kann man von der spätem Manier der Hetrurischen Künstler durch die Benennung des ersten Styls der Hetrurischen Kunst
unterscheiden und zum zweyten Style die in den nachfolgenden Zeiten gearbeiteten Hetrurischen Werke rechnen.
Der ältere Styl ihrer Kunst.
§. 14. An den Werken des ersten Hetrurischen Styls bemerkt man verschiedene Stufen der Kunst und der Zeit, indem er mit den
plumpesten und ungeschicktesten Figuren beginnt, von welchen man viele theils in Erz gegraben, theils in Stein geschnitten in den
Museen findet. Dann gelangt er zu jenen Werken, an welchen man gewahrt, daß eben dieser Styl eine bessere Form angenommen hatte
und systematischer geworden war. Doch sind dieser letzten Art nur sehr wenige Werke aufuns gekommen oder uns bekannt geworden.
Das größte, welches wegen seiner guten Erhaltung zur Richtschnur bey Beurtheilung dieses Styls dienen kann, ist die Leucothea, eine
erhobene Arbeit, welche in der Villa Sr. Eminenz des Herrn Alexander Albani befindlich ist.
§. 15. Die Zeichnung an diesem Marmor-Werke kann man sowohl in Absicht aufdie ganze Gestalt der Figuren als auf einzelne
Theile mit der Zeichnung der Aegyptischen Kunst- [58] Werke vergleichen. Nicht nur die Umrisse en fernen sich wenig von der
geraden Linie, sondern auch die Falten der Gewänder, welche fast senkrecht fallen und durch doppelte parallel laufende Einschnitte
angedeutet sind. In den Umrissen der platt geschnittenen und schräg aufwärts gezogenen Augen, in dem ebenfalls aufwärts gezogenen
Munde, und in dem kleinlich spitzigen Kinne gleichen sie ebenfalls den Aegyptischen Figuren, wie auch den Köpfen auf den ältesten
Griechischen Münzen. Das Haar auf der Stirn und den Schläfen ist in kleine geringelte parallel laufende Locken gelegt, und dies ist
auch eine Eigenschafi des zweyten Hetrurischen Styls.
Der zweyte Styl. Dessen Eigenschaften.
§.16. Mit der Zeit mußten doch die Künstler bemerken, daß sie im Wesentlichen ihren Zweck, welcher die Nachahmung der Natur
ist, verfehlt hatten. Um diesem Uebel abzuhelfen, gingen sie, wie es in ähnlichen Fällen zu geschehen pflegt, von einem Aeußersten zum
andern über, das heißt, von einer kraftlosen, magern, spillenmäßigen Zeichnung zu einer übertriebenen, sowohl in der empfindlichen
Andeutung der einzelnen Theile als auch in der Handlung und dem Ausdruck der Figuren; dies ist der zweyte Styls der Hetrurischen
Kunst. Dieselbe Weise, ein Aeußerstes dem andern entgegenzusetzen, zeigte sich auch in den verflossenen Jahrhunderten; denn da die
Zeichnung nach Art [59] der Hetrurischen mager und kleinlich zu werden angefangen, so warf sich Michel Angelo Buonarroti, um sie
zu verbessern, auf das andere Aeußerste. Und dieses war ganz natürlich; denn beim Lehren bemüht man sich, um richtig verstanden
zu werden, die Gegenstände so fühlbar und begreiflich als nur möglich zu machen, und man pflegt, um die Hälfte einer Sache zu
bekommen, gewöhnlich drey Viertheile zu fordern.
 
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