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Kommentare zu S. 1-132
Faune ist mehr eingedrückt, jedoch weniger als bey den kleinen Kindern, und in dem etwas in die Höhe gezogenen Munde zeigt sich
an den Winkeln ein freudiges Lächeln. Dieses giebt ihnen ein gewisses gefälliges und kindliches Ansehen, das man ein Correggisches
nennen[93] könnte, weil den Köpfen des Correggio sowohl jenes etwas gezierte Lächeln als auch jenes eingebogene Profil eigen ist.
§. 27. Hieraus, glaube ich, könne erklärt werden, auf welche Art nach dem Plato das WbrtEniyapu;, mit Grazie begabt, als gleich-
bedeutend mit Σιμός gebraucht worden. Dieses letztere Wort bedeutet eigentlich eine gesenkte und eingedrückte Nase, und ist das
Gegentheil von Γρυπός, wodurch eine erhobene und Adlers-Nase bezeichnet wird, so daß es bey diesem Gegensätze nicht auf ein mit
Grazie begabtes Aeußere angewandt werden kann. Lucretius, bey welchem das lateinische Wort Simus (Simulus), von dem Griechischen
Σιμός genommen, gleichbedeutend mit Σιληνός (Silenus) ist, erklärt und enthüllt vielmehr den Sinn des Plato, wenn wir nach dem
bekannten Satze, daßzwey Dinge, die einem dritten gleich sind, auch unter sich selbst gleich sind, unsern Schluß machen. Da nun
Σιμός gleichbedeutend mit Σιληνός ist, so ist auch Επίχαρις gleichbedeutend mit Σιληνός, und da unter der Benennung der
Silenen bey den Griechen auch die Satyrn und Faune begriffen sind, so kann auch diesen die Grazie zugeeignet werden; eben
so kann Σιμά γελών, vom Amor gesagt in einer Griechischen Sinnschrift, durch sein mit Grazie vermischtes aber schalkhaftes
Lächeln erklärt werden.
[94] Von der Schönheit im Ausdrucke und in der Handlung in Verbindung mit der Grazie. Vom Ausdrucke. Im Allgemeinen.
§. 28. Von der absoluten Schönheit der Formen oder von der linearischen Schönheit kommen wiraufdenAntheil, den der Ausdruck
und die Handlung an derselben haben. Beyde Eigenschaften sind für den Künstler das erste, das zweyte und das dritte Erforderniß,
so wie den Worten des Demosthenes zu Folge, es die Aktion bey dem Redner ist.
§. 29. Man kann sagen, daß der Ausdruck gewissermaßen die Handlung mit in sich begreife, weil er die Quelle von dieser ist und
seinen Sitz hauptsächlich im Gesichte hat, von wo alle Veränderungen der Geberden und der Haltung des Körpers ausgehen. Dieses
vorausgesetzt, verhält es sich mit dem Antheile, welchen die Schönheit an dem Ausdruck wie an der Handlung hat, oder mit der
Schönheit dieser beyden Eigenschaften, wenn sie sich zu der Gestalt dieser oder jener Person gesellt, eben so wie mit dem Bilde dessen,
der sich in einer Quelle spiegelt, indem dasselbe nur deutlich erscheint, wann die Oberfläche des Wassers unbewegt ist, hell und ruhig.
Die Stille und die Ruhe ist derjenige Zustand, welcher der Schönheit, so wie dem Meere, der eigentlichste ist. Der Ausdruck und die
Handlung deuten in der Zeichnung wie in der Natur auf den handelnden oder leidenden Zustand der Seele; die Schönheit ward
dann nur ganz im Gesichte zu erkennen seyn, wenn das Gemüth heiter ist und [95] frey von jeder Bewegung, wenigstens von jener
heftigen, welche die Züge, aus denen die schönen Formen zusammengesetzt sind, zu trüben und zu zerstören pflegt.
Im Besondern.
In den Figuren der Gottheiten.
§. 30. Wenn daher die Griechischen Künstler in den Bildern, wleche sie von dieser oder jener Gottheit entwerfen wollten, das Höchste
der menschlichen Schönheit darzustellen sich bemühten: so suchten sie mit den Gesichtszügen und der Handlung derselben eine Stille
zu vereinigen, welche auch nicht das Geringste von Bewegung und Leidenschaft verriethe, weil solches der Natur und dem Zustande
der Gottheiten der Philosophie zu Folge fremd war. Die in einer solchen Stille und Ruhe dargestellten Figuren offenbarten ein voll-
kommenes Gleichgewicht der Empfindung, und dieser Zustand allein konnte dem Gesichte des Genius, welcher in der Villa Borghese
aufbewahrt wird, jene hohe Schönheit geben, für welche uns derselbe ein Muster seyn kann.
§.31. Da aber im Handeln und Wirken die höchste Ruhe und Gleichgültigkeit nicht statt findet, und die Kunst es nicht vermeiden
konnte, die Gottheiten mit menschlichen Gefühlen und Empfindungen vorzustellen: so mußte sie sich mit dem Grade von Schönheit
begnügen, welchen die handelnde Gottheit zeigen konnte. Daher wurde der Ausdruck, mogte er auch noch so großseyn, nichts desto
weniger so zu- [96] gewogen, daß die Schönheit das Uebergewicht hat und sich verhält wie die Cymbel in einem Orchester, welche
alle andere Instrumente, die jene zu übertäuben scheinen, regiert.
Besonders im Vaticanischen Apollo.
Dieses zeigt sich ganz deutlich in dem Gesichte der Statue des Vaticanischen Apollo, welches den Unmuth über den durch Apollos
Pfeile erlegten Drachen und zugleich die Verachtung dieses Sieges ausdrücken sollte. Der weise Künstler, welcher den schönsten der
Götter bilden wollte, setzte nur den Zorn in die Nase, wo nach den Dichtern der Sitz desselben ist, und die Verachtung auf die Lippen;
diese hat er ausgedrückt durch die hinaufgezogene Unterlippe, wodurch sich zugleich das Kinn erhebt, und jener äußert sich in den
aufgeblähten Nasenläppchen. Aber sollten diese beyden Empfindungen nicht die Schönheit stören' Keineswegs; denn der Blick dieses
Apollo ist heiter und die Stirn ist ganz Frieden und Stille.
Kommentare zu S. 1-132
Faune ist mehr eingedrückt, jedoch weniger als bey den kleinen Kindern, und in dem etwas in die Höhe gezogenen Munde zeigt sich
an den Winkeln ein freudiges Lächeln. Dieses giebt ihnen ein gewisses gefälliges und kindliches Ansehen, das man ein Correggisches
nennen[93] könnte, weil den Köpfen des Correggio sowohl jenes etwas gezierte Lächeln als auch jenes eingebogene Profil eigen ist.
§. 27. Hieraus, glaube ich, könne erklärt werden, auf welche Art nach dem Plato das WbrtEniyapu;, mit Grazie begabt, als gleich-
bedeutend mit Σιμός gebraucht worden. Dieses letztere Wort bedeutet eigentlich eine gesenkte und eingedrückte Nase, und ist das
Gegentheil von Γρυπός, wodurch eine erhobene und Adlers-Nase bezeichnet wird, so daß es bey diesem Gegensätze nicht auf ein mit
Grazie begabtes Aeußere angewandt werden kann. Lucretius, bey welchem das lateinische Wort Simus (Simulus), von dem Griechischen
Σιμός genommen, gleichbedeutend mit Σιληνός (Silenus) ist, erklärt und enthüllt vielmehr den Sinn des Plato, wenn wir nach dem
bekannten Satze, daßzwey Dinge, die einem dritten gleich sind, auch unter sich selbst gleich sind, unsern Schluß machen. Da nun
Σιμός gleichbedeutend mit Σιληνός ist, so ist auch Επίχαρις gleichbedeutend mit Σιληνός, und da unter der Benennung der
Silenen bey den Griechen auch die Satyrn und Faune begriffen sind, so kann auch diesen die Grazie zugeeignet werden; eben
so kann Σιμά γελών, vom Amor gesagt in einer Griechischen Sinnschrift, durch sein mit Grazie vermischtes aber schalkhaftes
Lächeln erklärt werden.
[94] Von der Schönheit im Ausdrucke und in der Handlung in Verbindung mit der Grazie. Vom Ausdrucke. Im Allgemeinen.
§. 28. Von der absoluten Schönheit der Formen oder von der linearischen Schönheit kommen wiraufdenAntheil, den der Ausdruck
und die Handlung an derselben haben. Beyde Eigenschaften sind für den Künstler das erste, das zweyte und das dritte Erforderniß,
so wie den Worten des Demosthenes zu Folge, es die Aktion bey dem Redner ist.
§. 29. Man kann sagen, daß der Ausdruck gewissermaßen die Handlung mit in sich begreife, weil er die Quelle von dieser ist und
seinen Sitz hauptsächlich im Gesichte hat, von wo alle Veränderungen der Geberden und der Haltung des Körpers ausgehen. Dieses
vorausgesetzt, verhält es sich mit dem Antheile, welchen die Schönheit an dem Ausdruck wie an der Handlung hat, oder mit der
Schönheit dieser beyden Eigenschaften, wenn sie sich zu der Gestalt dieser oder jener Person gesellt, eben so wie mit dem Bilde dessen,
der sich in einer Quelle spiegelt, indem dasselbe nur deutlich erscheint, wann die Oberfläche des Wassers unbewegt ist, hell und ruhig.
Die Stille und die Ruhe ist derjenige Zustand, welcher der Schönheit, so wie dem Meere, der eigentlichste ist. Der Ausdruck und die
Handlung deuten in der Zeichnung wie in der Natur auf den handelnden oder leidenden Zustand der Seele; die Schönheit ward
dann nur ganz im Gesichte zu erkennen seyn, wenn das Gemüth heiter ist und [95] frey von jeder Bewegung, wenigstens von jener
heftigen, welche die Züge, aus denen die schönen Formen zusammengesetzt sind, zu trüben und zu zerstören pflegt.
Im Besondern.
In den Figuren der Gottheiten.
§. 30. Wenn daher die Griechischen Künstler in den Bildern, wleche sie von dieser oder jener Gottheit entwerfen wollten, das Höchste
der menschlichen Schönheit darzustellen sich bemühten: so suchten sie mit den Gesichtszügen und der Handlung derselben eine Stille
zu vereinigen, welche auch nicht das Geringste von Bewegung und Leidenschaft verriethe, weil solches der Natur und dem Zustande
der Gottheiten der Philosophie zu Folge fremd war. Die in einer solchen Stille und Ruhe dargestellten Figuren offenbarten ein voll-
kommenes Gleichgewicht der Empfindung, und dieser Zustand allein konnte dem Gesichte des Genius, welcher in der Villa Borghese
aufbewahrt wird, jene hohe Schönheit geben, für welche uns derselbe ein Muster seyn kann.
§.31. Da aber im Handeln und Wirken die höchste Ruhe und Gleichgültigkeit nicht statt findet, und die Kunst es nicht vermeiden
konnte, die Gottheiten mit menschlichen Gefühlen und Empfindungen vorzustellen: so mußte sie sich mit dem Grade von Schönheit
begnügen, welchen die handelnde Gottheit zeigen konnte. Daher wurde der Ausdruck, mogte er auch noch so großseyn, nichts desto
weniger so zu- [96] gewogen, daß die Schönheit das Uebergewicht hat und sich verhält wie die Cymbel in einem Orchester, welche
alle andere Instrumente, die jene zu übertäuben scheinen, regiert.
Besonders im Vaticanischen Apollo.
Dieses zeigt sich ganz deutlich in dem Gesichte der Statue des Vaticanischen Apollo, welches den Unmuth über den durch Apollos
Pfeile erlegten Drachen und zugleich die Verachtung dieses Sieges ausdrücken sollte. Der weise Künstler, welcher den schönsten der
Götter bilden wollte, setzte nur den Zorn in die Nase, wo nach den Dichtern der Sitz desselben ist, und die Verachtung auf die Lippen;
diese hat er ausgedrückt durch die hinaufgezogene Unterlippe, wodurch sich zugleich das Kinn erhebt, und jener äußert sich in den
aufgeblähten Nasenläppchen. Aber sollten diese beyden Empfindungen nicht die Schönheit stören' Keineswegs; denn der Blick dieses
Apollo ist heiter und die Stirn ist ganz Frieden und Stille.