Trattato premiliare [vorläufige Abhandlung] · Kommentar
107
Und wiewohl die Schmeicheley mit der Zeit die bürgerliche Gleichheit aufgehoben hatte, wie wir vom Tiberius wissen, dem der
römische Senat zu Füßen fiel, und vom Caligula, welcher die Senatoren die Hand und den Fuß zum Küssen reichte: erhob dennoch
die Kunst ihr Haupt, und behielt jene alte Weise bey, die in Athen, als die Kunst zu ihrer Höhe stieg, von jenen Künstlern beobachtet
worden, welche dieselbe verherrlichten.
$. 41. Wie sehr solche Eigenschaften den Künstlern in neueren Zeiten entweder unbekannt gewesen oder von ihnen vernachlässigt
worden, zeigt unter vielen andern Bey spielen, die ich anführen könnte, das neulich gemachte erhobene Werk an der Fontana di Trevi.
Der Baumeister überreicht mit einem gebogenen Knie den Plan dieser Wasserleitung dem Marcus Agrippa, von welchem ich, wenn
es hierher gehörte, anführen könnte, daß er einen langen Bart hat, so vielen Bildnissen zuwider, die sich sowohl auf Münzen als in
Marmor von ihm finden, alle ohne Bart.
$. 42. Den Grundlagen der Griechischen Künstler von dem Wohlstände zu Folge, kann ich mich nicht überreden, daß unter den
Figuren an dem Giebelfelde des Tempels der Pallas zu Athen Hadrianus vorgestellt sey, wie er eine weibliche Figur umfaßt, welches
uns Pococke versichert. [106] Dieses würde wider die Würdigkeit der Person und des Orts gedacht seyn, und ich glaube nicht, daß
Hadrianus oder desses Gemahlin Sabina hier abgebildet worden, welches Spon zuerst will entdeckt haben; denn sein Ansehen kann von
keinem großen Gewichte seyn gegen den von den Alten aufs standhafteste beobachteten Grundsatz, an den Tempeln nur Gegenstände
aus ihrer Mythologie und aus der Heldenzeit vorzustellen.
Von der Grazie.
$. 43. Nachem wir bisher den Ausdruk und die Handlung betrachtet haben, erfordert es die Ordnung der Gegenstände, daß wir jetzt
die Grazie, welche die Seele von Beyden ist, in Erwägung ziehen. Zwey Grazien gewahrt man in der Kunst der Griechen, und zwey
Grazien nur wurden in den ältesten Zeiten von diesem Volke verehrt; alle beyde sind, wie die Venus, von verschiedener Natur. Die
eine ist, wie die himmlische Venus, von höherer Geburt, und von der Harmonie gebildet, und ist beständig und unveränderlich, wie
die ewigen Gesetze von dieser sind.
Von der niedern gefälligen und gesuchten Grazie.
Die zweyte Grazie ist, wie die von der Dione geborne Venus, mehr der Materie unterworfen; sie ist eine Tochter derZeit und nur
eine Begleiterin der ersten, welche sich ankündigt für diejenige, denen die Geheimnisse der himmlischen Grazie unbekannt sind. Sie
läßt sich, so zu sagen, herunter von ihrer [107] Hoheit und macht sich mit Mildigkeit ohne Erniedrigung denen, die ein Auge auf sie
werfen, theilhaftig; sie ist nicht begierig zu gefallen, und will doch nicht unerkannt oder unbeachtet bleiben.
Von der erhabenen Grazie.
Nicht so die erste Grazie: sie, eine Gesellin aller Götter, scheint sich selbst genugsam, und bietet sich nicht an, sondern will gesucht
werden, ihr Wesen ist zu erhaben um sich sehr sinnlich zu machen; denn das Höchste hat, wie Plato sagt, kein Bild. Mit den Weisen
allein unterhält sie sich und dem Pöbel erscheint sie störrisch und unfteundlich; sie verschließt in sich die Bewegungen der Seele, und
nähert sich der seeligen Stille der göttlichen Natur, welche die Künstler in den Bildern der Götter auszudrücken suchten.
$. 44. Diese erste Grazie würden die Griechen mit der Dorischen, und die andere mit der Ionischen Harmonie verglichen haben, so daß,
wie durch die Ionische Ordnung die Baukunst, eben so durch die zweyte Grazie die Kunst der Zeichnung vom Praxiteles und Apelles
veredelt worden. Denn die Werke jenes Bildhauers unterschieden sich, wie Lucianus berichtet, durch eine besondere Grazie von allen
denen, die vor ihm gearbeitet worden, und Plinius sagt, daßApelles alle seine Vorgänger in der Grazie übertroffen habe. Daher ist diese
Grazie den Werken des Phidias, Polycletus, Pythagoras, Alcamenes, Myron [108] und Calamis, welche übrigens die Kunst zum Gipfel
der Vollkommenheit erhoben, noch nicht eigen gewesen; denn sie blühten ungefähr hundert Jahre vor dem Praxiteles. Eben so wenig
erreichten die berühmten Mahler vor dem Apelles, als Polygnotus, Zeuxis, Pausias und Parrhasius die Grazie jenes Künstlers. Sie hatte sich
indessen schon lange vor dem Zeitalter des Praxiteles und Apelles der Kunst mitgetheilt: der göttliche Dichter erkannte sie und hat sie in
dem Bilde der mit dem Vulkanus vermählten Aglaja oder Thalia vorgestellt, die daher Mitgehülfin dieses Gottes genannt wird, und mit
demselben arbeitete sie an der Schöpfung der göttlichen Pandora. Dieses war die Grazie, welche Pallas über den Ulysses ausgoß und von
welcher der hohe Pindarus singt; dieser Grazie opferten die ersten großen Meister der Kunst. Mit dem Phidias wirkte sie in Bildung des
Olympischen Jupiter, auf dessen Fußschämel dieselbe neben dem Jupiter auf dem Wagen der Sonne stand. Sie krönete mit den Göttinnen
der Jahreszeiten, ihren Geschwistern, das Haupt der berühmten Juno des Polycletus zu Argos, und sie lächelte in der Sosandra des Calamis
mit Unschuld. Durch sie unterstützt und geleitet wagte sich der Meister der Niobe noch vor dem Praxiteles in das Reich unkörperlichere
Ideen und erreichte [109] das Geheimniß, die Todesangst mit der höchsten Schönheit zu vereinigen; er wurde ein Schöpfer reiner und
himmlischer Seelen, die keine Begierden der Sinne erwecken, sondern eine anschauliche Betrachtung aller Schönheit wirken.
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Und wiewohl die Schmeicheley mit der Zeit die bürgerliche Gleichheit aufgehoben hatte, wie wir vom Tiberius wissen, dem der
römische Senat zu Füßen fiel, und vom Caligula, welcher die Senatoren die Hand und den Fuß zum Küssen reichte: erhob dennoch
die Kunst ihr Haupt, und behielt jene alte Weise bey, die in Athen, als die Kunst zu ihrer Höhe stieg, von jenen Künstlern beobachtet
worden, welche dieselbe verherrlichten.
$. 41. Wie sehr solche Eigenschaften den Künstlern in neueren Zeiten entweder unbekannt gewesen oder von ihnen vernachlässigt
worden, zeigt unter vielen andern Bey spielen, die ich anführen könnte, das neulich gemachte erhobene Werk an der Fontana di Trevi.
Der Baumeister überreicht mit einem gebogenen Knie den Plan dieser Wasserleitung dem Marcus Agrippa, von welchem ich, wenn
es hierher gehörte, anführen könnte, daß er einen langen Bart hat, so vielen Bildnissen zuwider, die sich sowohl auf Münzen als in
Marmor von ihm finden, alle ohne Bart.
$. 42. Den Grundlagen der Griechischen Künstler von dem Wohlstände zu Folge, kann ich mich nicht überreden, daß unter den
Figuren an dem Giebelfelde des Tempels der Pallas zu Athen Hadrianus vorgestellt sey, wie er eine weibliche Figur umfaßt, welches
uns Pococke versichert. [106] Dieses würde wider die Würdigkeit der Person und des Orts gedacht seyn, und ich glaube nicht, daß
Hadrianus oder desses Gemahlin Sabina hier abgebildet worden, welches Spon zuerst will entdeckt haben; denn sein Ansehen kann von
keinem großen Gewichte seyn gegen den von den Alten aufs standhafteste beobachteten Grundsatz, an den Tempeln nur Gegenstände
aus ihrer Mythologie und aus der Heldenzeit vorzustellen.
Von der Grazie.
$. 43. Nachem wir bisher den Ausdruk und die Handlung betrachtet haben, erfordert es die Ordnung der Gegenstände, daß wir jetzt
die Grazie, welche die Seele von Beyden ist, in Erwägung ziehen. Zwey Grazien gewahrt man in der Kunst der Griechen, und zwey
Grazien nur wurden in den ältesten Zeiten von diesem Volke verehrt; alle beyde sind, wie die Venus, von verschiedener Natur. Die
eine ist, wie die himmlische Venus, von höherer Geburt, und von der Harmonie gebildet, und ist beständig und unveränderlich, wie
die ewigen Gesetze von dieser sind.
Von der niedern gefälligen und gesuchten Grazie.
Die zweyte Grazie ist, wie die von der Dione geborne Venus, mehr der Materie unterworfen; sie ist eine Tochter derZeit und nur
eine Begleiterin der ersten, welche sich ankündigt für diejenige, denen die Geheimnisse der himmlischen Grazie unbekannt sind. Sie
läßt sich, so zu sagen, herunter von ihrer [107] Hoheit und macht sich mit Mildigkeit ohne Erniedrigung denen, die ein Auge auf sie
werfen, theilhaftig; sie ist nicht begierig zu gefallen, und will doch nicht unerkannt oder unbeachtet bleiben.
Von der erhabenen Grazie.
Nicht so die erste Grazie: sie, eine Gesellin aller Götter, scheint sich selbst genugsam, und bietet sich nicht an, sondern will gesucht
werden, ihr Wesen ist zu erhaben um sich sehr sinnlich zu machen; denn das Höchste hat, wie Plato sagt, kein Bild. Mit den Weisen
allein unterhält sie sich und dem Pöbel erscheint sie störrisch und unfteundlich; sie verschließt in sich die Bewegungen der Seele, und
nähert sich der seeligen Stille der göttlichen Natur, welche die Künstler in den Bildern der Götter auszudrücken suchten.
$. 44. Diese erste Grazie würden die Griechen mit der Dorischen, und die andere mit der Ionischen Harmonie verglichen haben, so daß,
wie durch die Ionische Ordnung die Baukunst, eben so durch die zweyte Grazie die Kunst der Zeichnung vom Praxiteles und Apelles
veredelt worden. Denn die Werke jenes Bildhauers unterschieden sich, wie Lucianus berichtet, durch eine besondere Grazie von allen
denen, die vor ihm gearbeitet worden, und Plinius sagt, daßApelles alle seine Vorgänger in der Grazie übertroffen habe. Daher ist diese
Grazie den Werken des Phidias, Polycletus, Pythagoras, Alcamenes, Myron [108] und Calamis, welche übrigens die Kunst zum Gipfel
der Vollkommenheit erhoben, noch nicht eigen gewesen; denn sie blühten ungefähr hundert Jahre vor dem Praxiteles. Eben so wenig
erreichten die berühmten Mahler vor dem Apelles, als Polygnotus, Zeuxis, Pausias und Parrhasius die Grazie jenes Künstlers. Sie hatte sich
indessen schon lange vor dem Zeitalter des Praxiteles und Apelles der Kunst mitgetheilt: der göttliche Dichter erkannte sie und hat sie in
dem Bilde der mit dem Vulkanus vermählten Aglaja oder Thalia vorgestellt, die daher Mitgehülfin dieses Gottes genannt wird, und mit
demselben arbeitete sie an der Schöpfung der göttlichen Pandora. Dieses war die Grazie, welche Pallas über den Ulysses ausgoß und von
welcher der hohe Pindarus singt; dieser Grazie opferten die ersten großen Meister der Kunst. Mit dem Phidias wirkte sie in Bildung des
Olympischen Jupiter, auf dessen Fußschämel dieselbe neben dem Jupiter auf dem Wagen der Sonne stand. Sie krönete mit den Göttinnen
der Jahreszeiten, ihren Geschwistern, das Haupt der berühmten Juno des Polycletus zu Argos, und sie lächelte in der Sosandra des Calamis
mit Unschuld. Durch sie unterstützt und geleitet wagte sich der Meister der Niobe noch vor dem Praxiteles in das Reich unkörperlichere
Ideen und erreichte [109] das Geheimniß, die Todesangst mit der höchsten Schönheit zu vereinigen; er wurde ein Schöpfer reiner und
himmlischer Seelen, die keine Begierden der Sinne erwecken, sondern eine anschauliche Betrachtung aller Schönheit wirken.