Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
140

Norm des Geistes versteht, so giebt es ethische und ästhetische
Wahrheit so gut, wie theoretische. Darum schrieb Kant nach
der Kritik der theoretischen Vernunst diejenigen der practischen
und der ästhetischen, und erst alle die drei großen Werke zu-
sammen geben seine ganze Philosophie. Man darf nicht mehr
sagen: seine Weltanschauung; denn er kann, er will kein Welt-
bild liefern. Statt dessen giebt er uns eine den ganzen Um-
sang der menschlichen Lebensbethätigung umspannende Besinnung
auf die Normalgesetze des Geistes. Er grenzt die Geltung der
einzelnen, indeni er sie begrnndet, genan gegen einander ab;
er weist jedem den Werth zu, der ihm in dem Ganzen unseres
Normalbewußtseins zukommt, und er zeigt, wie sie sich streitlos
zn einem Shsteme vereinigcn, dessen letzte Spitze wir nur zn
ahnen vermögen.

Wenn deshalb von einer Ergänzung die Rede gewesen ist,
welche Kant snr die Unzulänglichkeit der wissenschastlichen Er-
kenntniß in dem ethischen und dem ästhetischen Bewußtsein ge-
sucht habe, so darf das nicht in einer falschen Analogie zu
den Versuchen ausgesaßt werden, welche die srühere Skepsis
wol gemacht hat, das Wissen durch Ueberzeugnngen und Gesühle
. zn „ergänzen". Man mißversteht Kant's ganze Absicht und
man deutet seine Lehre sv schief wie nur irgend möglich, wenn
man meint, er habe gezeigt, daß die Wissenschast nur von der
Welt der „Erscheinnngen" ein Bild gewinnen, von den Dingen
an sich dagegen nichts „erkennen" könne, und daß man, um
zu einer Weltanschauung zu gelangen, zn den denknothwendigen
Boraussetzungen des sittlichen Bewußtseins und zu den genialen
Jntuitionen der Kunst greisen müsse. Die Wahrheit ist, daß
Kant den Begriff der „Weltanschauung" im alten Sinne über-
haupt zersetzt hat, daß sür ihn ein Abbild der Wirklichkeit
keinen Sinn hat, und daß er deshalb auch nichts darüber ge-
lehrt hat, wie sich etwa in der Erzeugung dieses Weltbildes
 
Annotationen