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haupt etwas verlangt wird, zucrst nachgingm, stießm wir aus
das formale Princip der Pflichterfüllung. Sollte etwa der
Jnhalt der Pslicht, bei dcssen Betrachtung uns das historische
Elemmt der Gescllschast begegnete, mit dem Merkmal der All-
gemeingiltigkeit selbst in directer Beziehung stehen?

Alle Gesellschasten, wie sie auch zu Stande gekommen sein
mögen, — die einen nnr durch gemeinsame Abstammung, die
anderen unter Mitwirkung historischer Processe — sind Com-
plexe von vorstellenden, fühlenden, wollmden Jndividum. Jn
einer jcden waltet nicht nur cine Gemeinsamkeit des physischm
Lebms, sondern auch cin geistiger Zusammenhang ob. Jede
Gescllschast hat ihr Gesammtbcwußtsein. Nicht eine mystische
Substanz, ein unsaßbarcr „Volksgeist" ist der Träger desselbcn,
sondern alle einzelnen Jndividuen. Aber eben vermöge der
natttrlichen oder historischen Gemeinsamkeit ihres Lebms liegt
in allen dicsm Jndividuen ein gemeinsamer Untergrund des
seelischen Daseins, auf welchem alle Mannichsaltigkeit des indivi-
duellm Vorstellens, Fühlens und Wollcns sich erhebt. Da ist
eine Vorstellungsweise, welche dcn Rahmen aller Kenntnisse und
alles Nachdmkms der Einzelnen bildet, — cine Gesühlsweise,
aus der dic Regungen individueller Gesühle als AuSzweigungm
sich ablösen, — eine Willensbestimmtheit, die als Grundton
alle persönlichen Bestrebungen durchdringt. Dies Gesammt-
bewußtsein ist in dem ursprünglichen Zustande jeder Gesellschaft
cine natürliche Gemeinsamkeit, welche unerkannt als bestimmende
Macht über den Jndividuen schwebt. Jhr Dcnken, ihr Fühlen,
ihr Wollm ist davon beherrscht. Diese Naturmacht des Gesammt-
bewußtseins nmnen wir Sitte; sic ist das natürlich Gemeinsame,
dasjenige, was mit Naturnothwendigkeit sür alle Mitglieder der
Gesellschast gilt. Sic ist in jeder Gesellschaft ein nothwmdiges
Product von derm natürlichen und historischen Lebmsverhalt-
nissen; sie ist deshalb in jeder anders als in den übrigen gestaltet.
 
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