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1012

Zum ersten Mal wirklich durch die Nation selbst geschaffen werden
sollte. Gerade die unterdrückende Macht der bisherigen zentralisirten
Regierung, Armee, politische Polizei, Bureaukratie, die Napoleon
1798 geschaffen und die seitdem jede neue Regierung als will-
kommenes Werkzeug übernommen und gegen ihre Gegner ausgenutzt
hatte, gerade diese Macht sollte überall fallen, wie sie in Paris
bereits gefallen war." Jndeß zur Verwirklichung dieses Prograunns
war der Moment noch nicht gekommen. Die Arbeiterklasse in:
Lande war nicht entwickelt genug, mit Paris Schritt zu halten, die
Versuche, die in einigen größeren Zentren in dieser Richtung unter-
nommen wurden, konnten von den lokalen Behörde!: mit Leichtigkeit
unterdrückt werden.

Die eigentlichen Sozialisten, die Mehrheit davon in Proudhon-
schen Anschauungen befangen, bildeten im Rath der Kommune die
Minderheit. Waren die
Verhältnisse der Ver-
wirklichung politischer
Neuerungen ungünstig,
so noch viel mehr, soweit
es sich um die Durch-
führung ökonomischer
Reformen handelte. Es
sind daher die meisten
der gegen die Kommune
wegen der Unzulänglich-
keit ihrer ökonomischen
Maßregeln erhobenen
Vorwürfe durchaus un-
berechtigt. Der Moment
war nicht danach auge-
than, weitschichtige Pro-
jekte auszuhecken, man
mußte sich darauf be-
schränken, zunächst den
dringendsten Anforder-
ungen der Gegenwart
nachzukommen u. schritt-
weise mit den Uebel-
ständen aufzuräumen,
unter denen die Arbeiter-
klasse besonders litt. Die
Kominune hat durchaus
recht gehandelt, daß sie,
statt etwa einen erneuer-
ten Tauschbankversuch
zu unternehmen, Maß-
regeln des Arbeiter-
schutzes (Verbot der
Nachtarbeit der Bäcker,

Unterdrückung der aus-
beuterischen Arbeitsver-
mittlungsbureaus, der
Bußen rc.) und der Expropriation, soweit diese im Augenblicke möglich,
verfügte. Nur in einer Hinsicht machte sich der Einfluß der Proudhon-
schen Schule verhängnißvoll geltend, nämlich in der respektvollen
Scheu, mit der die Kommune vor der Bank von Frankreich Halt
machte. Der Mann, der einst das Wort gesprochen „La propriete
c’est le vol — das Eigenthum ist Diebstahl," hatte in seinen
folgenden Schritten seinen Anhängern einen so heiligen Respekt vor-
dem „Eigenthum" beigebracht, daß sie nicht wagten, was jede
revolutionäre Bourgeoisregierung an ihrer Stelle gethan hätte:
Hand auf die Bank von Frankreich, den Zentralnerv des bürger-
lichen Gesellschaftsorganismus, zu legen. So wurde die falsche
ökonomische Erziehung zur Ursache des verhängnißvollsten politischen
Fehlers, den die Kommune begehen konnte.

Die Kommune konnte, nachdem sie Versailles Zeit gelassen,
Truppen heranzuziehen, nicht mehr darauf rechnen, dasselbe zu be-
siegen, es kam nur noch darauf an, von ihm einen möglichst ehren-
vollen Waffenstillstand und politisch befriedigenden Kompromiß zu
erzwingen. Von der Junischlacht 1848 her wußte man, wessen

die Bourgeoisie fähig ist, wenn es sich darum handelt, die bedrohte
Ordnung zu rächen. Und so sprach Alles dafür, sich des Instituts
zi: bemächtigen, an dem der Bourgeois mit größerer Liebe hängt,
als an allen Monumenten der Kunst und Wissenschaft zusammen-
genonnnen, dessen Funktionen mit tausend Fäden in das Getriebe
seiner Unternehmungen eingreisen, und an dessen Bestände er daher
im höchsten Grade interessirt ist. Der Besitz der Bank von Frank-
reich erlaubte, eine Pression auf Versailles auszuüben, der sich das-
selbe wahrscheinlich nicht entzogen hätte. Herr Thiers, der das
Leben der von der Kommune in Folge der Erschießungen der ge-
fangenen Kommunards ergriffenen Geißeln so leichten Herzens aufs
Spiel setzte, hätte sich sicherlich dreimal besonnen, ehe er die Millionen
und Milliarden der Bank von Frankreich preisgab. Die bestialische
Massenmetzelei der blutigen Maiwoche, die Niederschießung tausender

von wehrlosen Gefange-
nen, die Bluturtheile der
Kriegsgerichte, die Mas-
seneinkerkerungen und
die Massendeportationen
waren die Strafe für
diesen Unterlassungsfeh-
ler der Kommune.

Die Kommune war
keine von langer Hand
vorbereitete Erhebung.
Sie war das Produkt
des Zusammentreffens
einer Reihe von Umstän-
den, die geradewegs zu
einer Erhebung des re-
volutionären Volkes von
Paris trieben. Die re-
publikanische Opposition
gegen das Kaiserreich
hatte in Paris alle revo-
lutionären Erinnerun-
gen aufgewühlt, daun
war das Kaiserreich ge-
fallen und die Belager-
ung mit all ihren Leiden
und Entbehrungen, mit
all ihren Kämpfen und
Aufteguugen war ge-
kommen, die Massen
waren aufgeboten wor-
den, das Land, die Re-
publik zu verth eidigen,
und brannten nun da-
rauf, die Republik, wie
sie sie sich vorstellten,
endlich verwirklicht zu
sehen. Statt dessen zei-
gen die Bourgeoisrepublikaner bei der ersten Gelegenheit, daß ihre
Republik in der Praxis ganz anders ausschaut, als die Republik
der Proletarier, und in Versailles taucht das Gespenst der Kontre-
revolution, der Wiederherstellung der Monarchie auf. Das drängte
förmlich zur Katastrophe, und als Thiers daranging, die National-
garde, das Volk in Waffen, über Nacht seiner Geschütze zu berauben
— an sich der beste Beweis, daß auch er die Katastrophe für
unvermeidlich ansah — da mußte das Gefühl überlaufen. Der
Kamps brach aus, die Kommune wurde proklamirt. Der Republik
der Bourgeois trat die Republik der Proletarier gegenüber.

Aber die Republik der Proletarier war isolirt, und darum
mußte sie zu Grunde gehen. Der Kampf zwischen Bourgeoisie und
Proletariat kann nicht an einem einzelnen Punkt, und sei er noch
so bedeutend, ausgesochten werden. Die Illusion, als könne die
Hauptstadt ohne Weiteres das ganze Land nach sich ziehen, als
genüge es, wenn die Hauptstadt „bereit ist, die große Schlacht zu
schlagen," ist in der Pariser Kommune endgiltig zu Grabe ge-
tragen worden. Die Hauptstadt wird die Führung des Landes

Barrikaden auf dem Place de la Concorde.
 
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