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den Verfasser der Cncpffltfta. -
<^*32. An
„Wer zween Mücke lzak> mutz treulich
Einen an die Armen geben —
Zu verdammen ist der Mangel
Mit dem Ueberflutz daneben" —
Also sprach der Rabbi Jesus,
Wahrer Menschlichkeit zum Ruhme;
Sein Programm gab, sein soziales,
Er damit dem Christenthume.
Leo! Du, sein „Stellvertreter,"
Wie du stets mit Stolz dich nennest:
Zeige, datz zu seiner Lehre
Du in Wahrheit dich bekennest!
Sieh den Arbeitsmann im Elend,
Sieh die Armen, Rummerbleichrn —
Reklanrire für die Arniuth
Kühn den zweiten Rock des Neichen!
Sieh, wie sich die Schätze häufen
In des Rrichthums üpp'grn Händen!
Jetzt ist's Zeit! Jetzt tritt dazwischen,
Nur das schlimnre Spiel zu enden!
Wiederhole, was vom Reichthum
Der, den du vertrittst, gesprochen!
Oesfne der Paläste Thüren,
Dran des Hungers Schaaren pochen!
Wohl, — wir sahen dich entschlossen,
In den Ritz der Zeit zu springen,
Ihre Frage jetzt „unfehlbar"
Wolltest du zur Lösung bringen,
And so schriebst du die Epistel
Arber die soziale Frage —
Doch welch' eine wundersame
Leistung förderst du zu Tage!
Trittst den Armen kalt entgegen,
Statt dich ihrem Recht zu weihen;
Ihrer Sache Kämpfer schmähst du,
Statt dich ihnen einzureihen!
Nur dem Reichthum gilt das Sorgen
Deiner liebeleeren Seele —
Durch das Nadelöhr marschiren
Deiner Theorie Kamrrle.
Datz der Reichthum unantastbar
And die Armuth eine Schickung,
Datz in Grenzen nur geboten
Der Beladenen Erquickung,
Datz der Reiche der Gebieter
And der Arme mutz entbehren —
Also wendest du gar klüglich
Deines Meisters goldne Lehren.
And du selbst in Glanz und Schimmer
Häufest Gold im Vatikane;
Drautzen darbt und seufzt der Arme
Auf der Weltstadt weitem Plane.
Doch du girbst den „zweiten Rock" nicht,
Lästrfl nicht dein Herz erweichen,
Bist ja nicht der Papst der Christen,
Bist ja nur der Papst der Reichen.
„Was du hast, das gieb den Armen!
Gieb das Ganze, nicht das Halbe!"
So gebeut der Christen Lehre,
Doch du dienst dem goldnrn Kalbe.
Wenn drin Herr beim Weltgerichte
Trennt die Schafe von den Böcken,
Sag', wie willst du dann bestehen,
Frommer Mann mit den zwren Röcken?
Ll. K.
Berlin, so um de Rosenzeit rum.
Lieber Jacob!
In eene Zeit, wie de heitije, wo sich Alles mit Bazillen beschäftijen
duht un wo daher ooch Alles blos mikroskopisch sichtbar is, da is et janz
bestimmt keen Wunder, wenn unser täglichet Brot schließlich ooch 'ne
mikroskopische Jestalt annimmt. Is et een Wunder bei die hohen Korn-
preise? Ick will nischt jesagt haben, indem ick keencn landwirthschaftlichen
Verstand besitze un mir uff die drei Toppe mit wilden Wein, die meinen
Jrundbesitz ausmachen, jrade nich zu Dille inbilden will, aber ick habe eenen
jroßstädtischen Magen, un der merkt janz jenau, wenn de Schrippen alle
Tage kleener werden, un de Salzkuchen 'ne Jestalt annehmen, det De se
man blos noch mit 'ne janz scharfe Brille entdecken kannst.
Der Nothstand existirt for jroße Männer un jutsituirte Beamten ieber-
haupt nich, da frage mal blos Forckenbecken, un sollte Dir der keenc richtije
Auskunft jeden kennen, na, denn brauchste Dir ja blos an Caprivi'n zu
wenden, der is in't preiß'sche Abjeordnetenhaus nämlich janz dieselbe
Meinung jewescn, wie der Tyrann von Mottenburg, ick wollte sagen von
Berlin, in unsere jesegnete Stadtverordnetenversammlung. Nee, een Noth-
stand existirt ooch nich, denn wieso? Seh mal, Jacob, jrade jetzt kann
doch jar keen Nothstand in Berlin existiren, indem Alles, wat so 'n Bisken
Der Schrecken der Agrarier.
Trübe Zeiten brechen über den ärmsten und
elendesten Theil unserer Bevölkerung, nämlich über
die Klasse der Gutsbesitzer herein. Während ohne-
dies durch die unheilvoll vorschreitende sommerliche
Witterung die Hoffnung auf eine ausgiebige Miß-
ernte täglich schwindet, während nirgends ein ordent-
licher Hagelschlag auftritt und dem sehnsüchtig aus-
blickenden Auge des sorgenden Agrariers sich am
weiten Horizonte nicht der kleinste rettende Heu-
schreckenschwarm zeigt, der zur Steigerung der
Brotpreise hilfreich eingreifen könnte, steht auch der
österreichisch-deutsche Handelsvertrag drohend vor
der Thüre und die schlimmsten Umstürzler verlang-
ten sogar von der Regierung, sie solle schon jetzt
in Verbindung mit dem Reichstage den Kornzoll
herabsetzen! Wohin soll das führen? Es ist ja
wahr, daß cs Staatseinrichtungen giebt, die man
trotz ihres gesetzlichen Schutzes herabsetzen kann,
z. B. das Koalitionsrecht, das Wahlrecht u. s. w.
Aber die Kornzölle sind eine Staatscinrichtung,
welche niemals herabgesetzt werden darf. So lange
wir das internationale Getreide hübsch fern halten,
können wir den nationalen Brotpreis zu wahrhaft
idealer Höhe emporführen und da Jedermann Brot
kaufen muß, wird diese Einrichtung eine wahre
Segensguelle für den inländischen Grundbesitz werden
und es wird selbst ohne Mißernte recht leicht mög-
lich sein, Theuerung und Hungersnoth, also die
günstigsten Konjunkturen für den Kornhandel zu
schaffen. Aber sieht man denn gar nicht ein, daß
durch Abschaffung und selbst durch Verringerung
der Kornzölle die segensreichste Hungersnoth im
Keime erstickt werden muß? Wenn man die großen
Getreidevorräthe des Auslandes zu uns hereinläßt,
giebt es ja Brot in Fülle und der Preis desselben
wird augenblicklich fallen. Ist das nicht geradezu
ein Raub an jenen patriotischen Grundherren, welche
alles Mögliche gethan haben, um die Theuerung
aufrecht zu erhalten und sicher darauf rechneten,
ihren ganzen Vorrath zu den theueren Preisen an-
zubringen ! Und mit welchem Rechte darf man dem
gemeinen Manne erlauben, Brot zu essen, ohne
daß er davon seinen Tribut an den nothleidenden
Großgrundbesitz abgiebt? Das wäre ja eine Auf-
lösung aller Ordnung, Zucht und Sitte! Die Grund-
herren sind darauf angewiesen, die Produkte des
deutschen Erdbodens zu Preisen abzugeben, welche
ihnen das standesgemäße Leben ermöglichen. Woher
sollen sie den Champagner nehmen, wenn der arme
Mann billiges Brot ißt? Sollen sie etwa Spiel,
Jagd und Wettrennen aufgeben, nur damit sich
die Kinder des Arbeiters satt essen können? . Und
bedenkt man denn gar nicht, wie leicht das Volk
übermüthig wird, wenn es in Brot und Kartoffeln
schwelgen, ja vielleicht gar billiges Fleisch kaufen
kann! Es wird sich fühlen im eigenen Sclbst-
bewußtsein und wird schließlich sogar Butter ans
das Brot haben wollen. Schon jetzt bringt es
den nationalen Wohlthätern der Menschheit, den
Großgrundbesitzern, nicht die schuldige Verehrung
und Liebe entgegen; wenn die Regierung nun selbst
zur Herabsetzung der Zölle eingegriffen hätte, was
glücklicherweise vermieden wurde, dann wäre der
ganze Nimbus des nationalen Kornwuchers verloren
gegangen und selbst Mißernte, Hagelschlag und Heu-
schrecken Hütten das nationale Unglück einer Ver-
billigung des Brotes nicht mehr abwenden können.
Der nationallibrralr Parteitag.
Von unserem Spezialberichterstatter.
Berlin, 31. Mai 1891.
Es riecht stark nach Kautschuk. Eine riesige Wetter-
fahne ist auf dem aus einer Drehscheibe bestehenden
Podium aufgepflanzt, die durch einen verborgenen
Mechanismus beständig hin und her bewegt wird. An
der Längsseite sieht man eine große Kiste, von einer
mächtigen Dogge aus Papiermache bewacht und mit
einem Trauerflor bedeckt. „Was bedeutet wohl diese
Kiste?" fragte ich meinen Sitznachbar, den Korrespon-
denten eines hiesigen Blattes. „Raketenkiste," war die
Antwort, „von den Heidelbergern und Rheinländern,
welche die Heiligsprechung Bismarck's beantragen
wollen. Wissen Sie auch," fuhr er fort, „daß wir
heute eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges vorgeführt
bekommen?" — „Was denn?" — „Den Johannsen
ans Einbeck, welcher sich vom Sozialdemokraten
zum Nationalliberalen bekehrt hat."
Wir hatten keine Zeit mehr zu plaudern, die
Glocke tönte und nach der Eröffnung trat der Haupt-
redner auf das Podium. Derselbe warf zunächst einen
Rückblick auf die Geschichte der Partei. Keine andere
Partei habe einen solchen Heroismus in der Selbst-
kastration, einen solchen Mannesmuth in der Nachgie-
bigkeit und im Umfall an den Tag gelegt, keine sei so
konsequent gewesen in der Inkonsequenz, keine habe
das Prinzip der Prinzipienlosigkeit so kräftig vertreten,
als die nationalliberale. Als Beweis führte Redner
unter wachsender Begeisterung der Versammlung die
zahlreichen Umfälle auf, welche die Geschichte der Partei
zu verzeichnen hat. Damit habe die Partei ihre
Negierungsfähigkeit glänzend bewiesen, denn mit
Prinzipien lasse sich heutzutage nicht mehr regieren,
das sei Jdealpolitik, auf welche der deutsche Reichs-
bürger herunterblickt, wie ein gereifter Mann auf
seine romantische Jugendeselei. (Stürmisches Bravo.)
Hierauf ging Redner über zur Würdigung der Ver-
dienste, welche sich die nationallibcrale Partei um die
Gesetzgebung und die Wohlfahrt des deutschen Volkes
erworben hat. Sie habe den Kulturkampf und eben
so bereitwillig den Gang nach Kanossa unternommen;
die Jesuiten ausgewiesen, um den politischen Jesuiten
die Bahn frei zu machen. Sie habe das Sozialisten-
gesetz geschaffen und je nach zwei Jahren neu ge-
schaffen und wenn die Regierung darauf bestanden
wäre, hätte sie auch im vorigen Jahre zu dessen
Verlängerung in der dritten Lesung Ja und Amen
gesagt. Sie habe dem Volk durch Zölle, indirekte
Steuern, Zucker- und Schnaps-Prämien das Leben
„theuer" gemacht. (Große Heiterkeit.) Mehr als
jede andere Partei habe sie die Reptilienzucht ge-
fördert und sich um das Gedeihen dieser einem
großen Industriestaat so nützlichen Fauna die größten
den Verfasser der Cncpffltfta. -
<^*32. An
„Wer zween Mücke lzak> mutz treulich
Einen an die Armen geben —
Zu verdammen ist der Mangel
Mit dem Ueberflutz daneben" —
Also sprach der Rabbi Jesus,
Wahrer Menschlichkeit zum Ruhme;
Sein Programm gab, sein soziales,
Er damit dem Christenthume.
Leo! Du, sein „Stellvertreter,"
Wie du stets mit Stolz dich nennest:
Zeige, datz zu seiner Lehre
Du in Wahrheit dich bekennest!
Sieh den Arbeitsmann im Elend,
Sieh die Armen, Rummerbleichrn —
Reklanrire für die Arniuth
Kühn den zweiten Rock des Neichen!
Sieh, wie sich die Schätze häufen
In des Rrichthums üpp'grn Händen!
Jetzt ist's Zeit! Jetzt tritt dazwischen,
Nur das schlimnre Spiel zu enden!
Wiederhole, was vom Reichthum
Der, den du vertrittst, gesprochen!
Oesfne der Paläste Thüren,
Dran des Hungers Schaaren pochen!
Wohl, — wir sahen dich entschlossen,
In den Ritz der Zeit zu springen,
Ihre Frage jetzt „unfehlbar"
Wolltest du zur Lösung bringen,
And so schriebst du die Epistel
Arber die soziale Frage —
Doch welch' eine wundersame
Leistung förderst du zu Tage!
Trittst den Armen kalt entgegen,
Statt dich ihrem Recht zu weihen;
Ihrer Sache Kämpfer schmähst du,
Statt dich ihnen einzureihen!
Nur dem Reichthum gilt das Sorgen
Deiner liebeleeren Seele —
Durch das Nadelöhr marschiren
Deiner Theorie Kamrrle.
Datz der Reichthum unantastbar
And die Armuth eine Schickung,
Datz in Grenzen nur geboten
Der Beladenen Erquickung,
Datz der Reiche der Gebieter
And der Arme mutz entbehren —
Also wendest du gar klüglich
Deines Meisters goldne Lehren.
And du selbst in Glanz und Schimmer
Häufest Gold im Vatikane;
Drautzen darbt und seufzt der Arme
Auf der Weltstadt weitem Plane.
Doch du girbst den „zweiten Rock" nicht,
Lästrfl nicht dein Herz erweichen,
Bist ja nicht der Papst der Christen,
Bist ja nur der Papst der Reichen.
„Was du hast, das gieb den Armen!
Gieb das Ganze, nicht das Halbe!"
So gebeut der Christen Lehre,
Doch du dienst dem goldnrn Kalbe.
Wenn drin Herr beim Weltgerichte
Trennt die Schafe von den Böcken,
Sag', wie willst du dann bestehen,
Frommer Mann mit den zwren Röcken?
Ll. K.
Berlin, so um de Rosenzeit rum.
Lieber Jacob!
In eene Zeit, wie de heitije, wo sich Alles mit Bazillen beschäftijen
duht un wo daher ooch Alles blos mikroskopisch sichtbar is, da is et janz
bestimmt keen Wunder, wenn unser täglichet Brot schließlich ooch 'ne
mikroskopische Jestalt annimmt. Is et een Wunder bei die hohen Korn-
preise? Ick will nischt jesagt haben, indem ick keencn landwirthschaftlichen
Verstand besitze un mir uff die drei Toppe mit wilden Wein, die meinen
Jrundbesitz ausmachen, jrade nich zu Dille inbilden will, aber ick habe eenen
jroßstädtischen Magen, un der merkt janz jenau, wenn de Schrippen alle
Tage kleener werden, un de Salzkuchen 'ne Jestalt annehmen, det De se
man blos noch mit 'ne janz scharfe Brille entdecken kannst.
Der Nothstand existirt for jroße Männer un jutsituirte Beamten ieber-
haupt nich, da frage mal blos Forckenbecken, un sollte Dir der keenc richtije
Auskunft jeden kennen, na, denn brauchste Dir ja blos an Caprivi'n zu
wenden, der is in't preiß'sche Abjeordnetenhaus nämlich janz dieselbe
Meinung jewescn, wie der Tyrann von Mottenburg, ick wollte sagen von
Berlin, in unsere jesegnete Stadtverordnetenversammlung. Nee, een Noth-
stand existirt ooch nich, denn wieso? Seh mal, Jacob, jrade jetzt kann
doch jar keen Nothstand in Berlin existiren, indem Alles, wat so 'n Bisken
Der Schrecken der Agrarier.
Trübe Zeiten brechen über den ärmsten und
elendesten Theil unserer Bevölkerung, nämlich über
die Klasse der Gutsbesitzer herein. Während ohne-
dies durch die unheilvoll vorschreitende sommerliche
Witterung die Hoffnung auf eine ausgiebige Miß-
ernte täglich schwindet, während nirgends ein ordent-
licher Hagelschlag auftritt und dem sehnsüchtig aus-
blickenden Auge des sorgenden Agrariers sich am
weiten Horizonte nicht der kleinste rettende Heu-
schreckenschwarm zeigt, der zur Steigerung der
Brotpreise hilfreich eingreifen könnte, steht auch der
österreichisch-deutsche Handelsvertrag drohend vor
der Thüre und die schlimmsten Umstürzler verlang-
ten sogar von der Regierung, sie solle schon jetzt
in Verbindung mit dem Reichstage den Kornzoll
herabsetzen! Wohin soll das führen? Es ist ja
wahr, daß cs Staatseinrichtungen giebt, die man
trotz ihres gesetzlichen Schutzes herabsetzen kann,
z. B. das Koalitionsrecht, das Wahlrecht u. s. w.
Aber die Kornzölle sind eine Staatscinrichtung,
welche niemals herabgesetzt werden darf. So lange
wir das internationale Getreide hübsch fern halten,
können wir den nationalen Brotpreis zu wahrhaft
idealer Höhe emporführen und da Jedermann Brot
kaufen muß, wird diese Einrichtung eine wahre
Segensguelle für den inländischen Grundbesitz werden
und es wird selbst ohne Mißernte recht leicht mög-
lich sein, Theuerung und Hungersnoth, also die
günstigsten Konjunkturen für den Kornhandel zu
schaffen. Aber sieht man denn gar nicht ein, daß
durch Abschaffung und selbst durch Verringerung
der Kornzölle die segensreichste Hungersnoth im
Keime erstickt werden muß? Wenn man die großen
Getreidevorräthe des Auslandes zu uns hereinläßt,
giebt es ja Brot in Fülle und der Preis desselben
wird augenblicklich fallen. Ist das nicht geradezu
ein Raub an jenen patriotischen Grundherren, welche
alles Mögliche gethan haben, um die Theuerung
aufrecht zu erhalten und sicher darauf rechneten,
ihren ganzen Vorrath zu den theueren Preisen an-
zubringen ! Und mit welchem Rechte darf man dem
gemeinen Manne erlauben, Brot zu essen, ohne
daß er davon seinen Tribut an den nothleidenden
Großgrundbesitz abgiebt? Das wäre ja eine Auf-
lösung aller Ordnung, Zucht und Sitte! Die Grund-
herren sind darauf angewiesen, die Produkte des
deutschen Erdbodens zu Preisen abzugeben, welche
ihnen das standesgemäße Leben ermöglichen. Woher
sollen sie den Champagner nehmen, wenn der arme
Mann billiges Brot ißt? Sollen sie etwa Spiel,
Jagd und Wettrennen aufgeben, nur damit sich
die Kinder des Arbeiters satt essen können? . Und
bedenkt man denn gar nicht, wie leicht das Volk
übermüthig wird, wenn es in Brot und Kartoffeln
schwelgen, ja vielleicht gar billiges Fleisch kaufen
kann! Es wird sich fühlen im eigenen Sclbst-
bewußtsein und wird schließlich sogar Butter ans
das Brot haben wollen. Schon jetzt bringt es
den nationalen Wohlthätern der Menschheit, den
Großgrundbesitzern, nicht die schuldige Verehrung
und Liebe entgegen; wenn die Regierung nun selbst
zur Herabsetzung der Zölle eingegriffen hätte, was
glücklicherweise vermieden wurde, dann wäre der
ganze Nimbus des nationalen Kornwuchers verloren
gegangen und selbst Mißernte, Hagelschlag und Heu-
schrecken Hütten das nationale Unglück einer Ver-
billigung des Brotes nicht mehr abwenden können.
Der nationallibrralr Parteitag.
Von unserem Spezialberichterstatter.
Berlin, 31. Mai 1891.
Es riecht stark nach Kautschuk. Eine riesige Wetter-
fahne ist auf dem aus einer Drehscheibe bestehenden
Podium aufgepflanzt, die durch einen verborgenen
Mechanismus beständig hin und her bewegt wird. An
der Längsseite sieht man eine große Kiste, von einer
mächtigen Dogge aus Papiermache bewacht und mit
einem Trauerflor bedeckt. „Was bedeutet wohl diese
Kiste?" fragte ich meinen Sitznachbar, den Korrespon-
denten eines hiesigen Blattes. „Raketenkiste," war die
Antwort, „von den Heidelbergern und Rheinländern,
welche die Heiligsprechung Bismarck's beantragen
wollen. Wissen Sie auch," fuhr er fort, „daß wir
heute eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges vorgeführt
bekommen?" — „Was denn?" — „Den Johannsen
ans Einbeck, welcher sich vom Sozialdemokraten
zum Nationalliberalen bekehrt hat."
Wir hatten keine Zeit mehr zu plaudern, die
Glocke tönte und nach der Eröffnung trat der Haupt-
redner auf das Podium. Derselbe warf zunächst einen
Rückblick auf die Geschichte der Partei. Keine andere
Partei habe einen solchen Heroismus in der Selbst-
kastration, einen solchen Mannesmuth in der Nachgie-
bigkeit und im Umfall an den Tag gelegt, keine sei so
konsequent gewesen in der Inkonsequenz, keine habe
das Prinzip der Prinzipienlosigkeit so kräftig vertreten,
als die nationalliberale. Als Beweis führte Redner
unter wachsender Begeisterung der Versammlung die
zahlreichen Umfälle auf, welche die Geschichte der Partei
zu verzeichnen hat. Damit habe die Partei ihre
Negierungsfähigkeit glänzend bewiesen, denn mit
Prinzipien lasse sich heutzutage nicht mehr regieren,
das sei Jdealpolitik, auf welche der deutsche Reichs-
bürger herunterblickt, wie ein gereifter Mann auf
seine romantische Jugendeselei. (Stürmisches Bravo.)
Hierauf ging Redner über zur Würdigung der Ver-
dienste, welche sich die nationallibcrale Partei um die
Gesetzgebung und die Wohlfahrt des deutschen Volkes
erworben hat. Sie habe den Kulturkampf und eben
so bereitwillig den Gang nach Kanossa unternommen;
die Jesuiten ausgewiesen, um den politischen Jesuiten
die Bahn frei zu machen. Sie habe das Sozialisten-
gesetz geschaffen und je nach zwei Jahren neu ge-
schaffen und wenn die Regierung darauf bestanden
wäre, hätte sie auch im vorigen Jahre zu dessen
Verlängerung in der dritten Lesung Ja und Amen
gesagt. Sie habe dem Volk durch Zölle, indirekte
Steuern, Zucker- und Schnaps-Prämien das Leben
„theuer" gemacht. (Große Heiterkeit.) Mehr als
jede andere Partei habe sie die Reptilienzucht ge-
fördert und sich um das Gedeihen dieser einem
großen Industriestaat so nützlichen Fauna die größten