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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 14.1897

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https://doi.org/10.11588/diglit.6610#0019

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Hunger! Hunger!
Line Skizze aus dem sozialen Leben von Ls. Schmidt-Zwan.


töpfe nicht leer werden und dein begehrenden Magen die dampfende
Mahlzeit bereit steht. Welch ein melodischer Klang ist es dann für ein
Mutterohr, dieses sonst so unmelodische Wörtchen, wenn die Kindchen
alle die kleinen Hände bettelnd gegen sie ausstrecken und „Mama!
Hunger!" rufen. Welch eine Wonne auch für den reichen Prasser, der
sich an den ausgesuchten, kulinarischen Genüssen den Magen so gründlich
verdorben hatte, daß er aus der Uebersättigung gar nicht herauskam,
und den selbst die ausgesuchtesten und seltensten Delikatessen anwiderten,
wenn daun nach langem Harren und Warten der so wichtige Theil
seines inneren Menschen wieder Vernunft annimmt und „Hunger, Hunger"
knurrt. Man erzählt sich da sehr schöne Geschichten von reichen Leuten,
die einem armen Menschen den Hunger für vieles Geld abgekauft hätten,
und daß dann der nun selbst reich gewordene, aber hungerlos dahin-
lebende Mensch fußfällig gebeten habe, der Andere möge ihm doch seinen
Hunger zurückerstatten. Und wieder von anderen, mit dem „schnöden
Mammon" gesegneten Leuten berichtet man, daß sie ihren höchsten Genuß
darin gefunden hätten, recht ausgehungerte Bettler auf ihre Rechnung
satt zu machen und dabei zuzuschauen, wenn diese nun gierig die reich-
lich anfgetragencn Speisen hinunterschlangen; reizte dieser Anblick doch
auch ihren geschwächten Magen und gab ihnen etwas von dem ab, was
die Anderen zu viel hatteu: Hunger.
O ja, — es ist ein süßes Wort! — Aber wie dann, wenn dem
Nordpolfahrer die Lebensmittel ausgegangen sind in der ewigen Eis-
wüste nnd er sieht sich unrettbar dem Tode prcisgegcben, der fürchter-
lichsten aller Todesarten — dem Hungertode?! Wer vermag es auS-
zudenkcn, dieses schreckliche Bild! —
Kalt und ncbelfeucht wehte der Novemberwind durch die Straßen
der Vorstadt, in die mich ein wichtiger Gang geführt hatte. Fröstelnd
wickelte ich mich fester in meinen Wintermantel ein und während ich
an den kommenden Winter dachte und an das Elend, das er für so
manches Menschenkind im Gefolge haben würde, schlug ich unwillkürlich
ein schnelleres Tempo ein. Da wurde mein Fuß plötzlich durch einen
Straßenauflauf gehemmt. Um das Riesenfenster eines Bankhauses
herum gruppirte sich der Menschenschwarm, der sich hauptsächlich aus
den weiblichen Vertretern des Menschengeschlechts zusammensctzte —
Denn stets voran vor Allen sind die Frauen,
Wenn's was zu gaffen, was zu naschen giebt,
sagt Goethe recht ungalant in seinem Faust.
Ich bin ganz gewiß nicht neugierig, aber stehen blieb ich doch, um
zu erspähen, was es zu „gaffen" gäbe. Ich sah, daß die fast lautlose
Menge nach dem unteren Theil der riesigen Spiegelscheibe des Bankhauses,
die sich bis dicht an das Straßenpslaster hinuntcrzog, hinstarrte; die Auf-

I schrift, die ich da las, und die in einem Halbkreis aus vergoldeten Buch-
staben also lautete: „Kapital: Fünfundvierzig Millionen Mark", konnte
aber doch, so sehr sie auch zu imponiren im Stande sein mochte, nicht
die Veranlassung der Menschenansammlung sein. Jenes bleiche Menschen-
antlitz jedoch, das ich jetzt genau im Zentrum der „Kapitalaufschrift" ge-
wahrte, und das von dem Halbkreis derselben wie von einem Glorien-
schein umgeben wurde, jenes todesbleiche Gesicht mußte wohl das Interesse
all der Leute erwecken. Unwillkürlich schob und bog ich mich so weit als
möglich vor und erhob mich auf die Fußspitzen. Und nun sah ich. —
Einen Mann sah ich, sonst nichts; nur eiuen Mauu, die Füße lang
und steif auf das Straßenpflaster ausgestreckt, den Oberkörper gegen
die Glasscheibe mit der Milliouenanfschrift gelehnt, die mageren Arme,
welche an manchen Stellen durch den zerfetzten dünnen Kittel hindurch-
schauten, schlaff herabhängeud und den Kopf tief auf die Brust hinab-
gesunken. Was mochte ihm fehlen, diesem armseligen Menschen mit
dem bleichen Gesicht? — O, dieses Gesicht, so ungeheuer fleischlos und
eingefallen, daß man meinen konnte, mau sähe die Knochen durch die
blasse Haut hindurchschimmern, diese aschgraue Stirn mit den ein-
gefallenen Schläfen, auf denen sich die Adern wie dicke, aufgelagerte
Striemen markirten, gehörten sie überhaupt noch einem lebenden Men-
schen an, oder war es ein Todter, den ich da liegen sah? — Eben
beugte sich ein markiger Arbeiter, der sich schonungslos nut dem Ellen-
bogen Bahn zu dem Liegenden geschaffen, zu ihm hinab und fragte:
„Na, Du was fehlt Dir denn?" Dabei rüttelte er ihn gerade nicht
sanft an der Schulter. Ich sah, wie der Unglückliche da nnten vergeblich
versuchte, das Gesicht nach oben zu erheben und die dreiviertel ge-
schlossenen Augenlider ein wenig weiter zu öffnen.
„Hunger! Hunger!" drang cs aus den blauen, nur wenig ge-
öffneten Lippen so schwach und tonlos, und doch so furchtbar deutlich
hervor, daß es die ganze Menge, die lautlos seiner Antwort lauschte,
verstehen konnte und in seiner ganzen Furchtbarkeit erfaßte. Starres
Entsetzen prägte sich einen Augenblick in allen Gesichtern aus, dann
stieß Einer den Anderen und „Hunger! Hunger hat er!" ging cs von
Mund zu Munde.
O, es ist etwas Kostbares um das Mitgefühl! — Nur ein paar
seingekleidete Herren wandten sich mit einer verächtlichen Geberde zum
Weitergehen und murmelten etwas Aehnliches wie: „Wieder ein neuer
Schwindel!" Alle die Anderen aber, besonders die Frauen, schauten mit
bedauernden, mitleidigen, wehmüthigen und besorgten Mienen auf den
Elenden, und eine würdige, ältere, feingekleidete Dame, die dicht neben
mir stand in ihrem hocheleganten Plüschjacket und dem kostbaren Hute,
schlug in einem fort die Hände zusammen und jammerte: „O Gott,
der arme Mann, der arme Mann!" — O dieses kostbare Mitgefühl!
Da standen sie nnn alle, diese so mitleidigen Seelen, und bohrten mit
vorgestrecktem Kopfe ihre Augen in die verzerrten Züge des Unglück-
lichen, Verhungernden, und in den Mienen las ich etwas, das mich an
einen Jungen erinnerte, der mir eines Tages eine recht treuherzige
Antwort gegeben hatte. Auf dem äußersten Dachrande des himmelan-
ragenden Hauses, meiner Wohnung vis-L-vis, war ein Telephonarbeiter
mit seinem gefährlichen Handwerk beschäftigt, unten standen in gewohnter
Weise die neugierigen Gaffer, unter ihnen auch jener Junge. Aber
während die Anderen wechselten, blieb der Schlingel wie fcstgebannt
stundenlang an derselben Stelle dicht vor meinen: Fenster und verfolgte
mit äußerster Spannung jede Bewegung des Waghalsigen da oben.
Schließlich fragte ich ihn, ob ihm denn die Sache nicht allmälig über-
drüssig würde, und da bekam ich jene treuherzige Antwort: „Ach,"
meinte er, „ich möchte nur scheu, ob er nicht doch noch endlich herunter-
fallen wird!" — War es wirklich nur Mitleid, was die Menschen
hier um mich veranlaßte, regungslos den Hungernden auzustieren, oder
war auch die Hoffnung jenes Jungen dabei, daß — er fallen möge?
Der Einzige, der anders handelte, war der muskulöse Arbeiter,
der eben noch so roh den Hingesunkenen gerüttelt hatte. Kann: hatte
er die Worte des Unglücklichen vernommen, so griff er in die Tasche und
gab einem der umherstehenden Jungen ein Geldstück, damit er schleunigst
etwas zu essen hole. Der Knabe rannte davon und mindestens ein
halbes Dutzend andere folgten ihm; in einer nahen Stehbierhalle ü la
Aschinger sah ich ihn verschwinden. Inzwischen drängte sich ein Dienst-
mädchen der Nachbarschaft mit einem Glase frischen Wassers durch die
 
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