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dem Schlachtfeld erschienen, den zornigen Ruf
auspreßte: „Diese Engländer fühlen gar
nicht, daß sie geschlagen sind!"
Und diesen Zug hatte Harney in hervor-
ragendem Maße; in dem Bilde des Greises, das
meiner Skizze eingefügt ist, sieht der Leser noch
das scharfe Gepräge.
Er war ein Kämpfer. Und käme heute
jene Neugeburt des Chartismus, >yie er sie
geträumt und mit heißem Bemühen erstrebt
hat — trotz seiner achtzig Jahre eilte er in
das Hauptquartier der Revolution. Glüht er
doch heute noch mit dem Feuer der Jugend
für die Sache, der er sein Leben geweiht.
Nach dem Meeting, in welchem ich Harney
zum ersten Mal sah, waren wir längere Zeit
mit ihm zusammen. Da es mit meinem Englisch
noch ziemlich schlecht bestellt war, konnte ich
zum Gespräch nicht viel beitragen — was ja
auch sonst nicht meine Gewohnheit. Ich konnte
der Unterhaltung jedoch schon vollständig folgen,
und er wandte sich wiederholt an mich, den „Frei-
schärler", als den mich Marx, halb spottend,
vorgestellt hatte. Bei dieser Gelegenheit fand
ich auch, daß Harney die Verhältnisse des euro-
päischen Festlandes und die Revolutionen des
tollen Jahres nebst Fortsetzungen genau kannte.
Nach jener Nacht sah ich Harney oft, und
so lange er in London war, stand ich mit ihm
in engem Verkehr.
Die Versuche, den Chartismus durch einen
Einguß sozialistischen Bluts zu verjüngen, miß-
langen; und Harney, der sich in London keine
Existenz schaffen konnte, siedelte nach der Insel
Jersey über, wo er an die Spitze eines Blattes
trat. Mir kam er dann für längere Zeit aus
den Augen. Ende der siebziger Jahre erfuhr
ich von Marx, der bis zu seinem Tod mit ihm
in: Briefwechsel war, daß er sich in Amerika
einen Wirkungskreis geschaffen habe. Und noch-
mals verlor ich Harney aus dem Gesicht, bis
mir voriges Jahr, bei meiner Vortragsreise
durch England, in dem Aveling'schen Hause
Harney's Photographie aufstieß und ich erfuhr,
daß er noch lebe und zwar in England, in
Richmond, nicht weit von London. Wir faßten
den Plan, ihn vor meiner Heimfahrt einmal
aufzusnchen, allein es kam etwas in die Quere
und ich habe Harney nicht wieder gesehen —
seit 1862, wo er vor seiner Abreise nach Amerika
uns in London besuchte, uud mich auf dem
Sprung, nach Deutschland zurückzukehren, traf.
Inzwischen bin ich ein Siebziger geworden
nnd er ein Achtziger. Achtzig Jahre eines
solchen Lebens!
Anderthalb Jahre nach der Schlacht von
Waterloo wurde er geboren — am 17. Februar
1817 „in Kent" — so giebt er selbst an; den
Namen der Häusergruppe — Dörfer in unserem
Sinn giebt's da nicht — hat er wohl selber
vergessen. Gleich seinem Freund und Mit-
kämpfer Ernest Jones war er der Sohn eines
Seemanns — nur er eines gemeinen Ma-
trosen und der andere eines Admirals. So
hatte er auch nur die Erziehung eines Matrosen-
jungen, der andere die eines Admirals. Für
ihn die „Dame-School", d. h. von irgend einer
alten Frau gehaltene Dorfschule — für den
anderen die Universität. Und schließlich ge-
langten beide doch zu dem gleichen Punkt.
Aus der „Dame-School" wurde er, zehn Jahre
alt, in die Matrosenschule versetzt, wo auch
nicht überflüssig viel gelernt ward. Aber der
Matrosenjunge war lerneifrig, und sein Ehrgeiz
war, Schriftsetzer zu werden. Er kam mit sech-
zehn Jahren zu einem Buchdrucker, blieb indeß
nicht lang Schriftssch er, sondern wurde Schrift-
steller, das heißt Zeitungsschreiber. Es war
in den dreißiger Jahren, die Luft mit Elek-
trizität geschwängert. Der Kopf des jungen
Harney loderte. Die Reformbill war durch-
gesetzt und die Arbeiter merkten, daß sie geprellt
waren. Das Parlamentsthor hatte sich den
Bürgern geöffnet nnd vor den nachdrängenden
Arbeitern wieder geschlossen. Eine neue mäch-
tigere und tiefere Bewegung keimte auf. Zu-
nächst in der Pause gab es einen Kampf zur
Beseitigung des Zeitungsstempels, mit dem
die Presse niedergedrückt und — durch Ver-
theuerung — dem Volk unzugänglich gemacht
werden sollte. Es galt, die öffentliche Meinung
gegen den Stempel aufzuregen. Harney wurde
— zwanzig Jahre alt — Herausgeber eines
Blattes, das ohne Stempel erschien. Er wurde
von den Behörden verfolgt und zweimal zu Ge-
fängniß verurtheilt. Doch er ließ sich nicht ab-
schrecken und setzte den Kampf gegen den Zei-
tungsstempel so lange fort, bis dieser van fünf
Pence auf einen Penny herabgesetzt ward — der
Penny fiel erst in den fünfziger Jahren — und
bis ein größerer Kampf ihn rief. Aus dem
„Ungestempelten" der Jahre 1836 und 1837
wurde der Chartist.
Die Reformbewegung hatte mit der Reform-
bill nicht anfgehört. Dio „ausgesperrten" Ar-
beiter wollten den Bürgern im Parlament nach-
rücken. Die People's Charter, die LluAiiu
Oüarta, des Volks — von Charter der Name
„Chartist" —, wurde 1838 entworfen und ein
Konvent für 1839 nach London geladen. Die
berühmten „tivs points" — fünf Punkte — der
Charter, zu denen aber bald der nachstehend
zuletzt nufgezählte als sechster hinzukam, waren:
1. Lanlmoü ZllkkraM — das Stimmrecht der
Mannheit, das heißt aller erwachsenen Staats-
angehörigen männlichen Geschlechts, die das
Atter der Mündigkeit — einnndzwanzig Jahre
— erreicht haben. Das verlogene „allgemeine
Wahlrecht" — sntkruKS universal —, das die
Frauen, also die Hälfte der Menschen aus-
schließt, war damals noch nicht Mode geworden.
2. Gerechte Vertheilung der Parlamentssitze
und möglichst gleiche Wahlkreise;
3. Geheime Abstimmung („Ballot");
4. Jährliche Parlamente;
5. Bezahlung der Parlamentsmitglieder
(Diäten);
6. Abschaffung des Zensus für die Wähl-
barkeit.
Die Forderungen erklären sich selbst. Nur
eine ist im Laufe der Zeit erfüllt worden: die
des Ballot. Die Wahlkreise sind heute noch
von ungleicherer Größe als in irgend einem
anderen Land und die Trennung der städtischen
nnd ländlichen Wahlkreise ist noch nicht auf-
gehoben. Der Diätenzahlung widersetzen sich
die herrschenden Klassen Englands heute noch
ebenso und mit den nämlichen Scheingründen,
wie die deutschen Machthaber. Und was end-
lich das Wahlrecht betrifft, so ist es heute durch
die verschiedenen Reformbills des letzten Halb-
jahrhunderts wohl auf weitere Kreise ausge-
dehnt worden, allein noch immer sehr weit ent-
fernt davon, alle männlichen Staatsangehörigen
zu umfassen.
Was indeß heute noch den Arbeitern die
schwersten Hindernisse bereitet, das ist die Kost-
spieligkeit der Wahlen — ein Hinderniß, das
die Chartisten durch die Abschaffung des Zensus,
womit auch die Abschaffung der amtlichen Wahl-
kosten verbunden sein sollte, aus dem Weg zu
räumen beabsichtigten.
Der Werth einer Partei oder einer Be-
wegung zeigt sich darin, daß sie ein Programm
hat, das auch waschecht ist und nicht blos eine
schillernde Eintagsfliege. Das Programm der
Chartisten hat die Probe der Zeit bestanden.
So weit das Interesse der herrschenden Klassen
und die Logik der Thatsachen nicht Konzessionen
an dasselbe erzwangen, gilt es heute noch für das
englische Proletariat und ist heute noch so zeit-
gemäß wie am Tage, wo es entworfen ward. Nur
daß heute im Programm der Fortgeschrittenen
das Llanüooü 8utkruM zum wirklichen Uni-
vsrsul SnüraAS, zum wirklich allgemeinen
Wahlrecht herangewachsen ist, das die „Flau-
heit" ebenso umfaßt wie die „Mannheit".
Harney nahm als Delegirter für Newcastle
Theil an dem „Convent", dessen offizieller Name
war: „Erster National-Konvent der In-
dustrie-Klassen" — man sagte noch nicht:
Arbeiter-Klassen —, und der Montag, den
4. Februar 1839 in dem (jetzt nicht mehr vor-
handenen) British Coffee House, Cockspur Street,
zusammentrat. Für die Verhandlungen ist hier
kein Platz. Es machten sich zwei Strömungen
geltend — die der pbxsioul toros (physische
Gewalt) und die der moral tores (moralische
Gewalt). Harney nahm nicht Partei, weil er
sowohl an die physische als an die moralische
Gewalt glaubte. Noch im Laufe des Jahres
kam es zur Spaltung. Die pb^sioal korvs-msn
versuchten es mit der physischen Gewalt — und
entdeckten, daß der Staat, d. i. die organisirte
bürgerliche Gesellschaft, viel mehr pbz-sioal koros
hat, als die pb^sieal koros-msn. Es gab zahl-
reiche Verhaftungen und Prozesse. Auch Harney
hatte von Neuem ins Gefängniß zu wandern.
Zwei Jahre später war wieder eine stürmische
Zeit; und unser Heißsporn, der als Redner
und Journalist stets in der vordersten Reihe
stand, wurde abermals eingesperrt; er kam
— mit O'Connor und Anderen - vor die
Geschworenen, ward aber freigesprochen.
Im Jahre 1843 trat Harney in die Re-
daktion des „Northern Star", des Hanptorgans
der Chartisten. Er vertrug sich jedoch nicht gut
mit seinem „Chef" O'Connor, der ihm die Politik
zu gemüthlich und zu geschäftsmäßig betrieb.
Mitte der vierziger Jahre ging die Char-
tistenbewegung zurück. Allein die Februar-
revolution brachte ein Aufflackern der Flamme;
nur ein Aufflackern. Die Manifestation des
10. April 1848 verlief klüglich. O'Connor ging
geistig, körperlich und politisch zu Grunde und
die Anstrengungen Harney's, Ernest Jones' und
Anderer waren vergeblich. Der Chartismus,
der die Massen des englischen Proletariats ein
Jahrzehnt lang unter seiner Fahne vereinigt
hatte, genügte nicht mehr. Dio Zeit eines rein
politischen Programms für die Arbeiter war
vorüber, die des sozialen oder richtiger des
sozialistischen noch nicht gekommen.
Ich weiß nicht, wem ich den Preis zu-
erkennen soll: dem Journalisten Harney oder
dem Volksredner Harney. Er schrieb, wie
er sprach — der Stil ist der Mann —, immer
Harney, immer Agitator, immer Agitator für
dieselbe Sache. Kommunist seit 1848, schritt
er fort mit der Bewegung nnd ist ein Stück
der Internationalen Sozialdemokratie. Er-
schrick, sagte ich? Er schreibt noch. Heute
so frisch wie vor vierzig Jahren, als er den
„Red Republican" herausgnb. Rührend ist der
Nachruf, den er vor anderthalb Jahren seinem
Freunde Engels widmete.
Und was ihm nicht gelang, weil es noch
zu früh war: das englische Proletariat in
eine sozialistische Massenbewegung zu reißen,
das beginnt sich jetzt zu vollziehen. Die Saat
geht auf, deren Säemann er gewesen in einem
Maße, wie außer Ernest Jones kein zweiter.
Möge er die Ernte noch schauen! Ich meine
die nächste Großernte.
Berlin, Februar 1897.
W. Liebknecht.
dem Schlachtfeld erschienen, den zornigen Ruf
auspreßte: „Diese Engländer fühlen gar
nicht, daß sie geschlagen sind!"
Und diesen Zug hatte Harney in hervor-
ragendem Maße; in dem Bilde des Greises, das
meiner Skizze eingefügt ist, sieht der Leser noch
das scharfe Gepräge.
Er war ein Kämpfer. Und käme heute
jene Neugeburt des Chartismus, >yie er sie
geträumt und mit heißem Bemühen erstrebt
hat — trotz seiner achtzig Jahre eilte er in
das Hauptquartier der Revolution. Glüht er
doch heute noch mit dem Feuer der Jugend
für die Sache, der er sein Leben geweiht.
Nach dem Meeting, in welchem ich Harney
zum ersten Mal sah, waren wir längere Zeit
mit ihm zusammen. Da es mit meinem Englisch
noch ziemlich schlecht bestellt war, konnte ich
zum Gespräch nicht viel beitragen — was ja
auch sonst nicht meine Gewohnheit. Ich konnte
der Unterhaltung jedoch schon vollständig folgen,
und er wandte sich wiederholt an mich, den „Frei-
schärler", als den mich Marx, halb spottend,
vorgestellt hatte. Bei dieser Gelegenheit fand
ich auch, daß Harney die Verhältnisse des euro-
päischen Festlandes und die Revolutionen des
tollen Jahres nebst Fortsetzungen genau kannte.
Nach jener Nacht sah ich Harney oft, und
so lange er in London war, stand ich mit ihm
in engem Verkehr.
Die Versuche, den Chartismus durch einen
Einguß sozialistischen Bluts zu verjüngen, miß-
langen; und Harney, der sich in London keine
Existenz schaffen konnte, siedelte nach der Insel
Jersey über, wo er an die Spitze eines Blattes
trat. Mir kam er dann für längere Zeit aus
den Augen. Ende der siebziger Jahre erfuhr
ich von Marx, der bis zu seinem Tod mit ihm
in: Briefwechsel war, daß er sich in Amerika
einen Wirkungskreis geschaffen habe. Und noch-
mals verlor ich Harney aus dem Gesicht, bis
mir voriges Jahr, bei meiner Vortragsreise
durch England, in dem Aveling'schen Hause
Harney's Photographie aufstieß und ich erfuhr,
daß er noch lebe und zwar in England, in
Richmond, nicht weit von London. Wir faßten
den Plan, ihn vor meiner Heimfahrt einmal
aufzusnchen, allein es kam etwas in die Quere
und ich habe Harney nicht wieder gesehen —
seit 1862, wo er vor seiner Abreise nach Amerika
uns in London besuchte, uud mich auf dem
Sprung, nach Deutschland zurückzukehren, traf.
Inzwischen bin ich ein Siebziger geworden
nnd er ein Achtziger. Achtzig Jahre eines
solchen Lebens!
Anderthalb Jahre nach der Schlacht von
Waterloo wurde er geboren — am 17. Februar
1817 „in Kent" — so giebt er selbst an; den
Namen der Häusergruppe — Dörfer in unserem
Sinn giebt's da nicht — hat er wohl selber
vergessen. Gleich seinem Freund und Mit-
kämpfer Ernest Jones war er der Sohn eines
Seemanns — nur er eines gemeinen Ma-
trosen und der andere eines Admirals. So
hatte er auch nur die Erziehung eines Matrosen-
jungen, der andere die eines Admirals. Für
ihn die „Dame-School", d. h. von irgend einer
alten Frau gehaltene Dorfschule — für den
anderen die Universität. Und schließlich ge-
langten beide doch zu dem gleichen Punkt.
Aus der „Dame-School" wurde er, zehn Jahre
alt, in die Matrosenschule versetzt, wo auch
nicht überflüssig viel gelernt ward. Aber der
Matrosenjunge war lerneifrig, und sein Ehrgeiz
war, Schriftsetzer zu werden. Er kam mit sech-
zehn Jahren zu einem Buchdrucker, blieb indeß
nicht lang Schriftssch er, sondern wurde Schrift-
steller, das heißt Zeitungsschreiber. Es war
in den dreißiger Jahren, die Luft mit Elek-
trizität geschwängert. Der Kopf des jungen
Harney loderte. Die Reformbill war durch-
gesetzt und die Arbeiter merkten, daß sie geprellt
waren. Das Parlamentsthor hatte sich den
Bürgern geöffnet nnd vor den nachdrängenden
Arbeitern wieder geschlossen. Eine neue mäch-
tigere und tiefere Bewegung keimte auf. Zu-
nächst in der Pause gab es einen Kampf zur
Beseitigung des Zeitungsstempels, mit dem
die Presse niedergedrückt und — durch Ver-
theuerung — dem Volk unzugänglich gemacht
werden sollte. Es galt, die öffentliche Meinung
gegen den Stempel aufzuregen. Harney wurde
— zwanzig Jahre alt — Herausgeber eines
Blattes, das ohne Stempel erschien. Er wurde
von den Behörden verfolgt und zweimal zu Ge-
fängniß verurtheilt. Doch er ließ sich nicht ab-
schrecken und setzte den Kampf gegen den Zei-
tungsstempel so lange fort, bis dieser van fünf
Pence auf einen Penny herabgesetzt ward — der
Penny fiel erst in den fünfziger Jahren — und
bis ein größerer Kampf ihn rief. Aus dem
„Ungestempelten" der Jahre 1836 und 1837
wurde der Chartist.
Die Reformbewegung hatte mit der Reform-
bill nicht anfgehört. Dio „ausgesperrten" Ar-
beiter wollten den Bürgern im Parlament nach-
rücken. Die People's Charter, die LluAiiu
Oüarta, des Volks — von Charter der Name
„Chartist" —, wurde 1838 entworfen und ein
Konvent für 1839 nach London geladen. Die
berühmten „tivs points" — fünf Punkte — der
Charter, zu denen aber bald der nachstehend
zuletzt nufgezählte als sechster hinzukam, waren:
1. Lanlmoü ZllkkraM — das Stimmrecht der
Mannheit, das heißt aller erwachsenen Staats-
angehörigen männlichen Geschlechts, die das
Atter der Mündigkeit — einnndzwanzig Jahre
— erreicht haben. Das verlogene „allgemeine
Wahlrecht" — sntkruKS universal —, das die
Frauen, also die Hälfte der Menschen aus-
schließt, war damals noch nicht Mode geworden.
2. Gerechte Vertheilung der Parlamentssitze
und möglichst gleiche Wahlkreise;
3. Geheime Abstimmung („Ballot");
4. Jährliche Parlamente;
5. Bezahlung der Parlamentsmitglieder
(Diäten);
6. Abschaffung des Zensus für die Wähl-
barkeit.
Die Forderungen erklären sich selbst. Nur
eine ist im Laufe der Zeit erfüllt worden: die
des Ballot. Die Wahlkreise sind heute noch
von ungleicherer Größe als in irgend einem
anderen Land und die Trennung der städtischen
nnd ländlichen Wahlkreise ist noch nicht auf-
gehoben. Der Diätenzahlung widersetzen sich
die herrschenden Klassen Englands heute noch
ebenso und mit den nämlichen Scheingründen,
wie die deutschen Machthaber. Und was end-
lich das Wahlrecht betrifft, so ist es heute durch
die verschiedenen Reformbills des letzten Halb-
jahrhunderts wohl auf weitere Kreise ausge-
dehnt worden, allein noch immer sehr weit ent-
fernt davon, alle männlichen Staatsangehörigen
zu umfassen.
Was indeß heute noch den Arbeitern die
schwersten Hindernisse bereitet, das ist die Kost-
spieligkeit der Wahlen — ein Hinderniß, das
die Chartisten durch die Abschaffung des Zensus,
womit auch die Abschaffung der amtlichen Wahl-
kosten verbunden sein sollte, aus dem Weg zu
räumen beabsichtigten.
Der Werth einer Partei oder einer Be-
wegung zeigt sich darin, daß sie ein Programm
hat, das auch waschecht ist und nicht blos eine
schillernde Eintagsfliege. Das Programm der
Chartisten hat die Probe der Zeit bestanden.
So weit das Interesse der herrschenden Klassen
und die Logik der Thatsachen nicht Konzessionen
an dasselbe erzwangen, gilt es heute noch für das
englische Proletariat und ist heute noch so zeit-
gemäß wie am Tage, wo es entworfen ward. Nur
daß heute im Programm der Fortgeschrittenen
das Llanüooü 8utkruM zum wirklichen Uni-
vsrsul SnüraAS, zum wirklich allgemeinen
Wahlrecht herangewachsen ist, das die „Flau-
heit" ebenso umfaßt wie die „Mannheit".
Harney nahm als Delegirter für Newcastle
Theil an dem „Convent", dessen offizieller Name
war: „Erster National-Konvent der In-
dustrie-Klassen" — man sagte noch nicht:
Arbeiter-Klassen —, und der Montag, den
4. Februar 1839 in dem (jetzt nicht mehr vor-
handenen) British Coffee House, Cockspur Street,
zusammentrat. Für die Verhandlungen ist hier
kein Platz. Es machten sich zwei Strömungen
geltend — die der pbxsioul toros (physische
Gewalt) und die der moral tores (moralische
Gewalt). Harney nahm nicht Partei, weil er
sowohl an die physische als an die moralische
Gewalt glaubte. Noch im Laufe des Jahres
kam es zur Spaltung. Die pb^sioal korvs-msn
versuchten es mit der physischen Gewalt — und
entdeckten, daß der Staat, d. i. die organisirte
bürgerliche Gesellschaft, viel mehr pbz-sioal koros
hat, als die pb^sieal koros-msn. Es gab zahl-
reiche Verhaftungen und Prozesse. Auch Harney
hatte von Neuem ins Gefängniß zu wandern.
Zwei Jahre später war wieder eine stürmische
Zeit; und unser Heißsporn, der als Redner
und Journalist stets in der vordersten Reihe
stand, wurde abermals eingesperrt; er kam
— mit O'Connor und Anderen - vor die
Geschworenen, ward aber freigesprochen.
Im Jahre 1843 trat Harney in die Re-
daktion des „Northern Star", des Hanptorgans
der Chartisten. Er vertrug sich jedoch nicht gut
mit seinem „Chef" O'Connor, der ihm die Politik
zu gemüthlich und zu geschäftsmäßig betrieb.
Mitte der vierziger Jahre ging die Char-
tistenbewegung zurück. Allein die Februar-
revolution brachte ein Aufflackern der Flamme;
nur ein Aufflackern. Die Manifestation des
10. April 1848 verlief klüglich. O'Connor ging
geistig, körperlich und politisch zu Grunde und
die Anstrengungen Harney's, Ernest Jones' und
Anderer waren vergeblich. Der Chartismus,
der die Massen des englischen Proletariats ein
Jahrzehnt lang unter seiner Fahne vereinigt
hatte, genügte nicht mehr. Dio Zeit eines rein
politischen Programms für die Arbeiter war
vorüber, die des sozialen oder richtiger des
sozialistischen noch nicht gekommen.
Ich weiß nicht, wem ich den Preis zu-
erkennen soll: dem Journalisten Harney oder
dem Volksredner Harney. Er schrieb, wie
er sprach — der Stil ist der Mann —, immer
Harney, immer Agitator, immer Agitator für
dieselbe Sache. Kommunist seit 1848, schritt
er fort mit der Bewegung nnd ist ein Stück
der Internationalen Sozialdemokratie. Er-
schrick, sagte ich? Er schreibt noch. Heute
so frisch wie vor vierzig Jahren, als er den
„Red Republican" herausgnb. Rührend ist der
Nachruf, den er vor anderthalb Jahren seinem
Freunde Engels widmete.
Und was ihm nicht gelang, weil es noch
zu früh war: das englische Proletariat in
eine sozialistische Massenbewegung zu reißen,
das beginnt sich jetzt zu vollziehen. Die Saat
geht auf, deren Säemann er gewesen in einem
Maße, wie außer Ernest Jones kein zweiter.
Möge er die Ernte noch schauen! Ich meine
die nächste Großernte.
Berlin, Februar 1897.
W. Liebknecht.