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Deutsche Kunst- und Antiquitätenmesse [Hrsg.]
Die Weltkunst — 5.1931

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Nr. 20 (17. Mai)
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Jahrg. V, Nr. 20 vom 17. Mai 1931

DIE W E L T K U N S T

3



einschränkt,

Muller & Co., München

In

Wesensgehalt der Evolution nachhinkt,
aber gerade deshalb in gleich raschem

nicht möglich, bei Ausein-
dem Problem neuer Bau-
rationalistischen Theorien

Hamburg
Graupe, Berlin, io. Juni 1931

auch bei den neuen Formen sein wird. —-
Ich glaube, es läßt sich mit Objektivität die
Behauptung aufstellen, daß die geistigen und
materiellen Lebensbedingungen der Mensch-
heit noch niemals in so kurzer Zeit eine der-
art einschneidende Metamorphose erfahren
haben, wie in den leßten zehn Dezennien. Es
wäre organisch geradezu ein Rätsel, wären
die Bauformen, dieses empfindlichste Merk-
mal des Lebens, aus dieser Metamorphose un-
berührt hervorgegangen. Aber die Entwick-
lung hat sich in einem atemberaubenden
Tempo abgespielt. Jeßf erleben wir es, daß
der formale Ausdruck zwar — wie immer —

dem
sich
Tempo durchzuseßen sucht. Und darum ist es
nicht verwunderlich, daß Vielen die neuen
Formen noch nicht als das erscheinen wollen,
was sie in ihren guten Beispielen sind: als
ehrlicher Ausdruck eines geistigen und ma-
teriellen Wesensgehaltes, — sondern als über-
raschender Bruch mit überkommenen Vor-
stellungen und als Vergewaltigung einer vor-
getäuschten Tradition, die im Grunde kaum
mehr vorhanden war.

Unsere Lage scheint mir einzigartig^, ur-
sprünglich und verantwortungsvoll zu sein. Ich
sehe keine Zeit, der die Urformen der Wand,
des Raumes und des Körpers in so unberühr-
ter Keuschheit anvertraut gewesen wären wie
dieser; sie sind willfährig bereif zu stärkstem
Ausdruck, aber von größter Empfindlichkeit
gegen jedes Mißverstehen ihres Wesens und
ihrer Geseße. Unsere raumüberspannenden
Konstruktionen sind von unerhörter Großartig-
keit. Und die neuen Beziehungen von Mensch
zu Mensch, zu Werk und höheren Mächten
drängen nach neuen Formen des Ausdrucks.

jenem der

Konstruktivismus; — und die als Tendenz-
Dogma aufgepußte Aussage, daß das Bauen
weiter nichts als ein biologischer Prozeß sei.
Es hätte keinen Zweck, im Rahmen eines
kurzen Essays auf eine Kritik dieser Theo-
rien eingehen zu wollen. Ich möchte nur
darauf hinweisen, daß solcher Rationalismus
in anderen Geistesbewegungen überwunden
ist, und daraus die Gewißheit schöpfen, daß
er auch in der Entwicklung der Bauformen
nicht mehr viel Unheil wird stiften können.
Nur ein paar Worte zur Erläuterung, worum
es sich handelt.
Die Tatsache, daß von der Technik ein
wesentlicher Impuls zu neuer Formgebung
ausgeht, hat über irgendeinen literarischen
Umweg den paradoxen Schluß hervorgebracht,
daß der Ingenieur unvermittelt, ohne weiteres
geistiges Zwischenglied „Kunst" machen
könne. Hier bleibt der grundlegende Unter-
schied zwischen Werkform und Kunstform,
zwischen zweckgerichtetem Schaffen und
irrationalem Prozeß, zwischen Werkzeug und
Ausdruck unbegriffen.
Der einseitige Konstruktivismus ist ganz
ähnlich auf dem Denkfehler aufgebaut, als ob
mit der zweifellos vorhandenen Metaphysik
der Technik und der Großkonstruktion auch
die Metaphysik eines Raumes erschöpft wer-
den könnte. Genau so, als ob etwa die go-
tische Kathedrale ohne das Welfgefühl der
Scholastik und Mystik denkbar wäre, unbe-
schadet dessen, daß sie konstruktiv aus der
Idee hochstzulässiger Ausnützung von Ma-
terialquerschnitten herausgewachsen ist.
Schließlich möchte die Aussage, das Bauen
wäre nichts weiter als ein „biologischer Pro-
zeß“ jede Problemstellung irrationaler, also
auch künstlerischer Art aus dem geistigen Um-
fang der Bautätigkeit ausgeschaltet wissen.
Hier ist übersehen, daß aus dem „biologischen
Prozeß“ an sich der irrationale Spannungs-
zustand, — der doch auch eine Lebensäuße-
rung ist — durch einen bloßen Willensakt gar-
nichf ausgeschieden werden kann.
Diese Kinderkrankheiten sind wir im Be-
griffe zu überwinden.
Die Tatsache aber, daß in den neuen Bau-
formen sich zunächst eine gewisse inter-
nationale Übereinstimmung zeigt, — was na-
türlich weder pro noch contra politisch aus-
gemünzt werden kann und dürfte, — wird als
Beweis für die zwingende Lebensfähigkeit der
neuen Entwicklung gewertet werden können.
Denn die primären Aussagen eines jeden
großen Stils, — der Gotik, der Renaissance,
des Barock — wachsen aus übernationalem
Boden empor. Erst später pflegt der Stil in
nationalen Boden abzusickern, aus dem er
seinen leßten und subtilsten Ausdruck sam-
melt, der immer blutgebunden war, und es

dem Sinne, wie die Griechen Statuen
von idealen Proportionen schufen, damit die
Frauen schöne Kinder zur Welt brächten,
strebt die heutige Wohnbaukunst durch Schaf-
fen gesunder, heller, befreiender Räume und
direkten Kontakt des Hauses mii der Land-
schaft, mit der Natur das Heranwachsen
freierer, glücklicherer, komplexloserer Men-
schen an. Es fragt sich dabei, ob die durch-
gängige Kleinheit der billigen Wohnungen
nicht eine gewisse Engstirnigkeit hervorbrin-
gen wird, ob der Gewinn an Hygiene nicht
(Fortsetzung auf Seite 10)

Diese von Mies van d e r Rohe ge-
leitete, in Halle II stationierte Abteilung der
Deutschen Bauausstellung befaßt
sich mit einem der wichtigsten Probleme des
Bauwesens und geht uns Stadtbewohner am
meisten an. Der wirtschaftlichen Situation
entsprechend werden vorwiegend einfache,
mit möglichst geringen Mitteln erstellte Woh-
nungen gezeigt, und das ist gut so, denn die
brauchen wir am notwendigsten. Es erweist
sich, daß die Anwendung räumlich ökonomi-
scher, wirklich praktischer und hygienischer
Bauformen und Einrichtungen durchgängig
selbstverständlich geworden ist. Man be-
kommt einen Überblick über die praktischen
Auswirkungen der wirtschaftlichen, sozialen
und kulturellen Umschichtungen im Bauwesen
und, da nur Spißenleistungen Aufnahme fan-
den, auf jedem Gebiet das Leßfe und Beste
zu sehen. Die Schau wirbt um unser Ver-
trauen, indem sie uns an Hand von Quer-
schnitten durch das verwendete Baumaterial
beweist, daß fiache Dächer durch eine Torf-
schicht vor der Sonne geschüßt, dünne Wände
gegen das leidige Radio, sonstige Geräusche
und Kälte oder Wärme isoliert werden
können. Die Möbel sind noch nicht ganz so
billig, wie sie es sein sollten, Patente,
Lizenzen, technische Schwierigkeiten, noch
nicht geschaffene Normierung und vor allem
die zögernde Aufnahme (lies: mangelnde
Kaufkraft) halfen vorläufig noch den Preis zu
hoch. Das Stahlmöbel scheint berufen,
durchzudringen, besonders der lehnenlose,
federnde Stuhl von Mies van der Rohe. Die
Desta-Möbel, neuerdings mit holzähn-
lichen Kunstharzplatfen kombiniert, heimeln
den kaufenden Bürger mehr an, sind aber
nicht immer rein in der Form.

Favence-Krüge mit Malereien des Nürnberger Hausmalers Abraham Helmhack
Collection Max Emden,
Versteigerung — Vente — Sale: H. Ball & P.

Es ist nicht so, daß „Können" heute seinen
Sinn verloren hätte, — im Gegenteil, noch nie
hat eine Zeit an das „Können“ im weitesten
Sinne des Wortes größere Anforderungen ge-
stellt. Der Bau wird zur zusammenfassen-
den Einheit, zum Gemeinschaffsausdruck aller
Kunst. Kunstverfahren, welche das Wesen
der Wand vertragen kann oder die es steigern
können — das Fresco, Sgraffifo, Mosaik,
Glasmalerei, Intarsia, Relief, Gobelin — ge-
winnen an Bedeutung. Das Ornament hat
innerhalb der ganzen Größe dieses Entfaltens
vorläufig weder Plaß noch Sinn, überall fällt
die notwendig konsequente geistige Neigung
zur Abstraktion auf. Die Wechselwirkung zwi-
schen Körper und Raum geht zu ganz großen
Spannungen über, entsprechend den Span-
nungen, die in der Zeit liegen. Die Entwick-
lung ist ganz im Fluß und es scheint folge-
richtig, daß diese Weltenwende, deren sehr
realer Anstoß zunächst ein technisch-wirt-
schaftlicher war, ihre Geistigkeit zu einem
einheitlichen Weltgefühl steigern und schließ-
lich ihre leßte transzendente Aussage jenseits
aller Zweckgebundenheii in irgendeinem Bau-
typus sammeln xyircl. Das ist Hoffnung.

Reaktion auf deren Mißhandlung durch die
„Gründer“.
Es ist endlich
anderseßung mit
formen an drei
vorbeizusehen, die als Behinderung und Ver-
wirrung der Entwicklung sonderbarerweise
von vorwärtsschauenden Formgestaltern selbst
in die Diskussion geworfen wurden und wohl
alle drei auf den Generalnenner der „neuen
Sachlichkeit" zu bringen sind.
Ich meine:
Die Identifizierung von Werkform und
Kunstform; — die Ideologie des überspißten

sentieren, hätte dazu aber keine Möglichkeit,
solange sie an ihrer geistigen Haltung, die zu
gewinnen ist, arbeiten muß. Aber auch dar-
über hinaus wird naturgemäß in Zeiten kollek-
nver Gemeinschaft das Bedürfnis nach Ver-
Seistigung und Verinnerlichung stets vorherr-
schen, keines nach formaler Repräsentation
Übrig bleiben; — schon aus dem einfachen
Grunde, weil dort der Sinn jeder Ordnung
flüssig bleibt und ihre Tatsache nicht durch
e>nen Druck von oben gesichert erscheint, son-
dern stets wieder neu von innen heraus ge-
wonnen werden muß. Nur ganz kurz kann ich
darauf hinweisen, daß dieser Mangel an re-
präsentativem Bedarf¬
es auch die Anwend¬
barkeit der repräsen¬
tativen Achse im, Bauen
ausschließt, oder doch
sehr
e,n Begriff übrigens,
der mit _ ...
Symmetrie nicht ver¬
wechselt werden darf.
Für das, worum es
sich beim starken Be¬
tonen des Kubischen
handelt, ist mir der Ein¬
fluß der Wasserschei¬
den zwischen Nord
und Süd auf die vor-
'Udustriellen Bauformen
eine willkommene Ana-
‘9916, die am sinn-
fälligsten a,m Gotthard
zum Ausdruck kommt.
Man sieht nämlich im
Sanzen Gebiet nörd¬
lich der Wasserscheide
das Holzgespärr als
Giebel oder Walm¬
dach, in mannigfachen
Variationen, bis hinauf
ZU den bekannten nor¬
dischen Holzhäusern
Und Holzkirchen. Süd¬
lich der Wasserscheide
das Haus als klaren
kubischen Körper aus
Unverpußtem Bruch¬
stein, das Material mit
Liebe sehen lassend,
die Dachhaut erst noch
auf ganz flach geleg-
Sparren; weiter
Süden tritt dann
immer
in Reinkultur auf:

Wandteppich — Tapisserie — Tapestry
Frankreich, um 1500 — France, vers 1500
Collection Marczell von Nemes, München
Versteigerung — Vente — Sale: P. Cassirer, H. Helbing und Frederik
16.—19. Juni 1931

ten
hach _ _.
der Steinbau
Hehr.... .
der süditalienische Ku¬
bus, die Kuppel, der
ägyptische Steinbau
oder das Steinhaus des
flaurän. — Dieser Gegensaß in den Formen
Uördlich und südlich der Wasserscheide läßt
sich, so scheint mir, auf eine einfache Formel
bringen: Die nördlich der Wasserscheide den-
ken in Holz, die südlich von ihr denken in
Stein. Ich sage absichtlich: sie denken und
nicht sie bauen, oder konstruieren in Holz
°der Stein, denn dies Denken in einem be-
stimmten Material, das in seinen Wurzeln na-
türlich auf den ursprünglichen Verwendungs-
gang des Materials mit zurückgeht, bewirkt,
daß selbst dann die Erscheinungsformen des
Holzbaues bzw. des Steinbaues sich durch-
Seßen, wenn das fremde Material in mehr oder
Weniger beschränktem Maße mit zur Anwen-
dung kommt. Wir sehen hier also Kubus,
b'ogen und Kuppel als Formen, aus denen der
Naturstein, der Backstein, der Gußbeton und
die Art ihrer konstruktiven Verwendbarkeit als
otüße, Mauer, Balken und Gewölbe zu uns
sprechen.
Es scheint mir nüßlich, auf diesen Gegen-
?aß: „Denken in Stein" und „Denken in
Nolz" hinzuweisen, erstens, weil sich aus der
Betrachtung ergibt, daß die charakteristischen
Taditionellen Formen des Bauens an sich in
Nord und Süd in erster Linie Konsequenzen
W>n Material und Konstruktion, nicht aber
Äußerungen besonderer bluis- und stammes-
^aßiger Mentalitäten sind (die als solche auch
in ihren formalen Auswirkungen natürlich nicht
9eleugnef werden sollen), und zweitens, weil
auf einem ähnlichen Wege gelingt, die
^bische Erscheinungsform auch der neuen
Bauten von heute als natürliche Konsequenzen
y°n Material und Konstruktion bzw. des Den-
*ens in ihnen zu erkennen.
> Schließlich sei auf einen Weg irrationaler
Natur hingewiesen, der von einer anderen
Boite an das Phänomen der strengen kubi-
fCben Form und der wiedererwachten Ehr-
hrcht vor Wand und Fläche heranführt. Wand
Vs rechteckige Fläche und Kubus als Körper
llnd Raum sind Urformen, die in leßter Kon-
jie9uenz auf das zwingendste Geseß des
Rauens, jenes der Schwerkraft, zurückgeführt
.erden können. Sie lassen sich ohne Grund
,cht ungestraft mißachten oder mißhandeln
?.l(l waren allen Zeiten hoher Baukultur Geseß.
I an könnte geradezu einen Kanon der Ur-
Bfkien nachweisen, der sich durch das Bau-
„chaffen aller Zeiten hindurchzieht. Die
p.ründerzeit, eklektisch und auch in diesen
r’n9en ohne Taktgefühl, weiß von solchem
\v?n°n nichts. Und darum sind uns Kubus,
s,Qnd und Fläche vorläufig — optisch ver-
e,anden — in strenger Unberührtheit, nicht
JWa nur Konsequenzen konstruktiver und
3 aterialmäßiger Vorausseßungen, sondern
saeh (jer Ausdruck unserer Sehnsucht und un-
eres Strebens nach Urformen, als irrationale

Die Wohnung
unserer Zeit


GALERIE E. A. FLEISCHMANN

GEGRÜNDET 1806

MÜNCHEN * MAXIMILIANSTRASSE 1
 
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