KUNSTGESCHICHTLICHE GRUNDBEGRIFFE
also niemandem etwas Neues, wenn man das Lineare voranstellt. Allein
indem wir uns nun anschicken, die typischen Beispiele von Linearismus
vorzuführen, müssen wir sagen, daß diese nicht bei den Primitiven des
15. Jahrhunderts zu finden sind, sondern erst bei den Klassikern des 16.
Lionardo ist in unserm Sinne linearer als Botticelli und Holbein der Jün-
gere linearer als sein Vater. Der Linientyp hat die moderne Entwicklung
nicht eröffnet, sondern hat sich aus einer noch unreinen Stilgattung erst
allmählich herausgearbeitet. Daß Licht und Schatten als bedeutender Faktor
auftritt im 16. Jahrhundert, ändert nichts an dem Prinzipat der Linie. Sicher,
auch die Primitiven sind zeichnerisch, aber ich würde sagen: sie haben die
Linie wohl benützt, aber nicht ausgenützt. Es ist etwas anderes, an ein
linienhaftes Sehen gebunden sein und bewußt auf Linie hin arbeiten. Die
vollkommene Freiheit der Linie gegenüber kommt genau in dem Augen-
blick, wo das Gegenelement, Licht und Schatten, zur Reife gekommen ist.
Nicht daß überhaupt Linien da sind, entscheidet über den linearen Stil-
charakter, sondern — wie schon gesagt — erst der Nachdruck, mit dem sie
sprechen, die Macht, mit der sie das Auge zwingen, ihnen zu folgen. Der
Kontur der klassischen Zeichnung übt eine unbedingte Gewalt aus: er hat
den Sachakzent und ist der Träger der dekorativen Erscheinung. Er ist ge-
laden mit Ausdruck und in ihm ruht alle Schönheit. Wo immer uns Bilder
des 16. Jahrhunderts begegnen, da springt uns ein entschiedenes Linien-
thema entgegen und Schönheit und Ausdruck der Linie sind eins. In dem
Gesang der Linie offenbart sich die Wahrheit der Form. Es ist die große
Leistung der Cinquecentisten, die Sichtbarkeit ganz konsequent der Linie
unterworfen zu haben. Verglichen mit der Zeichnung der Klassiker ist der
Linearismus der Primitiven nur eine Halbheit1).
In diesem Sinne haben wir gleich anfangs Dürer als den einen Ausgangs-
punkt genommen. — Was den Begriff malerisch anbelangt, so wird zwar
niemand opponieren, wenn man ihn mit Rembrandt zusammenbringt, allein
die Kunstgeschichte braucht ihn schon viel früher, ja, er hat sich ein-
genistet in der unmittelbaren Nähe der Klassiker' der Linienkunst. Man
nennt Grünewald malerisch im Vergleich zu Dürer, unter den Florentinern
ist Andrea del Sarto der erklärte „Maler“, die Venezianer insgesamt sind
') Dabei muß man sich klar machen, daß das’Quattrocento als Stilbegriff keine Einheit
bildet. Der Prozeß der Linearisierung, der im 16. Jahrhundert mündet, beginnt erst
um die Mitte des Jahrhunderts. Die erste Hälfte ist weniger linienempfindlich oder, 1
wenn man will, malerischer als die zweite. Erst nach 1450 wird das Gefühl für Silhouette
lebendiger. Im Süden natürlich früher und durchgreifender als im Norden.
34
also niemandem etwas Neues, wenn man das Lineare voranstellt. Allein
indem wir uns nun anschicken, die typischen Beispiele von Linearismus
vorzuführen, müssen wir sagen, daß diese nicht bei den Primitiven des
15. Jahrhunderts zu finden sind, sondern erst bei den Klassikern des 16.
Lionardo ist in unserm Sinne linearer als Botticelli und Holbein der Jün-
gere linearer als sein Vater. Der Linientyp hat die moderne Entwicklung
nicht eröffnet, sondern hat sich aus einer noch unreinen Stilgattung erst
allmählich herausgearbeitet. Daß Licht und Schatten als bedeutender Faktor
auftritt im 16. Jahrhundert, ändert nichts an dem Prinzipat der Linie. Sicher,
auch die Primitiven sind zeichnerisch, aber ich würde sagen: sie haben die
Linie wohl benützt, aber nicht ausgenützt. Es ist etwas anderes, an ein
linienhaftes Sehen gebunden sein und bewußt auf Linie hin arbeiten. Die
vollkommene Freiheit der Linie gegenüber kommt genau in dem Augen-
blick, wo das Gegenelement, Licht und Schatten, zur Reife gekommen ist.
Nicht daß überhaupt Linien da sind, entscheidet über den linearen Stil-
charakter, sondern — wie schon gesagt — erst der Nachdruck, mit dem sie
sprechen, die Macht, mit der sie das Auge zwingen, ihnen zu folgen. Der
Kontur der klassischen Zeichnung übt eine unbedingte Gewalt aus: er hat
den Sachakzent und ist der Träger der dekorativen Erscheinung. Er ist ge-
laden mit Ausdruck und in ihm ruht alle Schönheit. Wo immer uns Bilder
des 16. Jahrhunderts begegnen, da springt uns ein entschiedenes Linien-
thema entgegen und Schönheit und Ausdruck der Linie sind eins. In dem
Gesang der Linie offenbart sich die Wahrheit der Form. Es ist die große
Leistung der Cinquecentisten, die Sichtbarkeit ganz konsequent der Linie
unterworfen zu haben. Verglichen mit der Zeichnung der Klassiker ist der
Linearismus der Primitiven nur eine Halbheit1).
In diesem Sinne haben wir gleich anfangs Dürer als den einen Ausgangs-
punkt genommen. — Was den Begriff malerisch anbelangt, so wird zwar
niemand opponieren, wenn man ihn mit Rembrandt zusammenbringt, allein
die Kunstgeschichte braucht ihn schon viel früher, ja, er hat sich ein-
genistet in der unmittelbaren Nähe der Klassiker' der Linienkunst. Man
nennt Grünewald malerisch im Vergleich zu Dürer, unter den Florentinern
ist Andrea del Sarto der erklärte „Maler“, die Venezianer insgesamt sind
') Dabei muß man sich klar machen, daß das’Quattrocento als Stilbegriff keine Einheit
bildet. Der Prozeß der Linearisierung, der im 16. Jahrhundert mündet, beginnt erst
um die Mitte des Jahrhunderts. Die erste Hälfte ist weniger linienempfindlich oder, 1
wenn man will, malerischer als die zweite. Erst nach 1450 wird das Gefühl für Silhouette
lebendiger. Im Süden natürlich früher und durchgreifender als im Norden.
34