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iv. Vielheit und Einheit

(Vielheitliche Einheit und einheitliche Einheit)

Malerei

i. >

T~\as Prinzip der geschlossenen Form setzt schon die Auffassung des Allgemeines
Bildwerkes als einer Einheit voraus. Erst wenn die Gesamtheit der
Formen als ein Ganzes gefühlt ist, kann man sich dieses Ganze gesetzmäßig
geordnet denken, gleichgültig, ob nun eine tektonische Mitte herausgebildet
ist oder eine freiere Ordnung waltet.

Dieses Gefühl für Einheit entwickelt sich nur allmählich. Es gibt nicht
einen bestimmten Moment in der Kunstgeschichte, wo man sagen könnte:
jetzt ist“ es da; auch hier muß man mit lauter relativen Werten rechnen.

Ein Kopf ist ein Formganzes, das die florentinischen Quattrocentisten
gewiß ebenso wie die alten Niederländer als solches, nämlich als Ganzes,
gefühlt haben. Wenn man aber einen Kopf des Raffael oder des Quinten
Massys zur Vergleichung heranzieht, so fühlt man sich einer anderen An-
schauung gegenüber und sucht man den Gegensatz zu fassen, so ist es im
letzten Grunde doch der Gegensatz eines Sehens im einzelnen und eines
Sehens im ganzen. Nicht daß jenes kümmerliche Zusammenstellen von
Einzelnheiten gemeint sein könnte, über die der Lehrer den Malschüler mit
immer erneuter Korrektur hinwegzubringen versucht — derartige Quali-
tätsvergleiche fallen hier ganz außer Betracht, allein die Tatsache bleibt,
daß im Vergleich mit den Klassikern des 16. Jahrhunderts diese alten Köpfe
uns immer mehr im Detail beschäftigen und ein geringeres Maß von Zu-
sammenhang zu besitzen scheinen, während man dort von jeder Einzelform
gleich aufs Ganze gewiesen wird. Man kann nicht das Auge sehen, ohne
die größere Form der Augenhöhle wahrzunehmen, wie sie zwischen Stirn
und Nase und Backenknochen eingebettet ist, und der Horizontalität des
Augenpaares und des Mundes antwortet gleich die Vertikalität der Nase:
es ist eine Kraft in der Form, das Sehen aufzuwecken und zu einer ein-
heitlichen Auffassung des Vielen zu zwingen, der sich auch ein stumpfer
Betrachter kaum entziehen kann. Er wird munter und fühlt sich plötzlich
als ein anderer Kerl.

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