KUNSTGESCHICHTLICHE GRUNDBEGRIFFE
Und derselbe Unterschied waltet zwischen einer Bildkomposition des
15. und des 16. Jahrhunderts. Dort das Zerstreute, hier das Zusammen-
gefaßte; dort bald die Armut des Vereinzelten, bald die Unentwirrbarkeit
des Allzuvielen, hier ein gegliedertes Ganzes, wo jeder Teil für sich spricht
und faßbar ist und doch sofort in seinem Zusammenhang mit dem Ganzen,
als Glied einer Gesamtform sich zu erkennen gibt.
Indem wir auf diese Dinge hinweisen, die den Unterschied der klassischen
und der vorklassischen Zeit ausmachen, gewinnen wir erst die Grundlage
für unser eigentliches Thema. Allein hier macht sich nun gleich der Mangel
an unterscheidenden Worten aufs empfindlichste geltend: im selben Moment,
wo wir die Einheit des Komponierens als ein wesentliches Merkmal der
Cinquecentokunst nennen, müssen wir sagen, daß wir gerade das Zeitalter
Raffaels als eine Epoche der Vielheit der späteren Kunst mit ihrer Tendenz
nach Einheit gegenüberstellen wollen. Und diesmal ist es nicht ein Auf-
steigen von der ärmeren zur reicheren Form, sondern es sind zwei ver-
schiedene Typen, die, jede für sich, ein letztes darstellen. Das 16. Jahr-
hundert wird nicht diskreditiert durch das 17., denn hier handelt es sich
nicht um einen Unterschied der Qualität, sondern um etwas generell Neues.
Ein Kopf des Rubens ist nicht besser im ganzen gesehen als ein Kopf
von Dürer oder von Massys, aber die selbständige Ausbildung der einzelnen
Teile ist aufgehoben, die hier das Formganze doch als eine (relative) Viel-
heit erscheinen läßt. Die Seicentisten visieren auf ein bestimmtes Haupt-
motiv, dem sie alles andere unterordnen. Nicht mehr die einzelnen Ele-
mente des Organismus, wie sie sich gegenseitig bedingen und in Har-
monie halten, werden im Bilde wirksam, sondern aus dem in einheitlichen
Fluß gebrachten Ganzen heben sich einzelne Formen als die unbedingt füh-
renden heraus, so aber, daß auch diese führenden Formen für den Blick
nichts Trennbares, nichts was sich absondern ließe, bedeuten.
Im vielfigurigen Historienbild läßt sich das Verhältnis vielleicht am sicher-
sten klarmachen.
Der biblische Bilderkreis kennt als eines seiner reichsten Motive die Kreuz-
abnahme des Herrn, ein Geschehen, das viele Hände in Bewegung setzt und
starke psychologische Kontraste enthält. Wir besitzen eine klassische Re-
daktion des Themas in dem Bilde des Daniele da Volterra in Trinitä' dei
Monti in Rom. Hier hat man immer bewundert, wie die Figuren als lauter
selbständige Stimmen ausgebildet sind und doch so ineinandergreifen, daß
jede ihr Gesetz vom Ganzen aus zu empfangen scheint. Ebern das ist renais-
164
Und derselbe Unterschied waltet zwischen einer Bildkomposition des
15. und des 16. Jahrhunderts. Dort das Zerstreute, hier das Zusammen-
gefaßte; dort bald die Armut des Vereinzelten, bald die Unentwirrbarkeit
des Allzuvielen, hier ein gegliedertes Ganzes, wo jeder Teil für sich spricht
und faßbar ist und doch sofort in seinem Zusammenhang mit dem Ganzen,
als Glied einer Gesamtform sich zu erkennen gibt.
Indem wir auf diese Dinge hinweisen, die den Unterschied der klassischen
und der vorklassischen Zeit ausmachen, gewinnen wir erst die Grundlage
für unser eigentliches Thema. Allein hier macht sich nun gleich der Mangel
an unterscheidenden Worten aufs empfindlichste geltend: im selben Moment,
wo wir die Einheit des Komponierens als ein wesentliches Merkmal der
Cinquecentokunst nennen, müssen wir sagen, daß wir gerade das Zeitalter
Raffaels als eine Epoche der Vielheit der späteren Kunst mit ihrer Tendenz
nach Einheit gegenüberstellen wollen. Und diesmal ist es nicht ein Auf-
steigen von der ärmeren zur reicheren Form, sondern es sind zwei ver-
schiedene Typen, die, jede für sich, ein letztes darstellen. Das 16. Jahr-
hundert wird nicht diskreditiert durch das 17., denn hier handelt es sich
nicht um einen Unterschied der Qualität, sondern um etwas generell Neues.
Ein Kopf des Rubens ist nicht besser im ganzen gesehen als ein Kopf
von Dürer oder von Massys, aber die selbständige Ausbildung der einzelnen
Teile ist aufgehoben, die hier das Formganze doch als eine (relative) Viel-
heit erscheinen läßt. Die Seicentisten visieren auf ein bestimmtes Haupt-
motiv, dem sie alles andere unterordnen. Nicht mehr die einzelnen Ele-
mente des Organismus, wie sie sich gegenseitig bedingen und in Har-
monie halten, werden im Bilde wirksam, sondern aus dem in einheitlichen
Fluß gebrachten Ganzen heben sich einzelne Formen als die unbedingt füh-
renden heraus, so aber, daß auch diese führenden Formen für den Blick
nichts Trennbares, nichts was sich absondern ließe, bedeuten.
Im vielfigurigen Historienbild läßt sich das Verhältnis vielleicht am sicher-
sten klarmachen.
Der biblische Bilderkreis kennt als eines seiner reichsten Motive die Kreuz-
abnahme des Herrn, ein Geschehen, das viele Hände in Bewegung setzt und
starke psychologische Kontraste enthält. Wir besitzen eine klassische Re-
daktion des Themas in dem Bilde des Daniele da Volterra in Trinitä' dei
Monti in Rom. Hier hat man immer bewundert, wie die Figuren als lauter
selbständige Stimmen ausgebildet sind und doch so ineinandergreifen, daß
jede ihr Gesetz vom Ganzen aus zu empfangen scheint. Ebern das ist renais-
164