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in. Geschlossene Form und offene Form

(Tektonisch und atektonisch)

Malerei

i.

Allgemeines T edes Kunstwerk ist ein Geformtes, ein Organismus. Sein wesentlichstes
J Merkmal ist der Charakter der Notwendigkeit, daß nichts geändert oder
verschoben werden könnte, sondern alles so sein muß, wie es ist.

Allein wenn in diesem qualitativen Sinne von einer Landschaft des
Ruysdael ebensogut wie von einer Komposition Raffaels gesagt werden
kann, sie sei etwas absolut Geschlossenes, so bleibt doch der Unterschied,
daß dieser Charakter der Notwendigkeit da und dort auf verschiedener
Grundlage gewonnen worden ist: im italienischen Cinquecento ist ein tekto-
nischer Stil seiner höchsten Vollendung entgegengetrieben worden, im hol-
ländischen 17. Jahrhundert ist es der freie atektonische Stil, der für Ruys-
dael als einzig mögliche Darstellungsform existierte.

Es wäre zu wünschen, daß es ein besonderes Wort gäbe, um eindeutig
die geschlossene Komposition im qualitativen Sinne zu unterscheiden von
der bloßen Grundlage eines tektonisch gearteten Darstellungsstils, wie
wir ihn im 16. Jahrhundert haben und dem atektonischen des 17. Jahr-
hunderts gegenüberstellen. Wir nehmen trotz dem unerwünschten Doppel-
sinn die Begriffe geschlossene und offene Form in den Titel auf, weil sie
in ihrer Allgemeinheit das Phänomen doch besser bezeichnen als tektonisch
und atektonisch, und wieder bestimmter sind als die ungefähr synonymen
wie streng und frei, regulär und irregulär und dergleichen.

Gemeint ist eine Darstellung, die mit mehr oder weniger tektonischen
Mitteln das Bild zu einer in sich selbst begrenzten Erscheinung macht,
die überall auf sich selbst zurückdeutet, wie umgekehrt der Stil der offenen
Form überall über sich selbst hinausweist, unbegrenzt erscheinen will, ob-
wohl eine heimliche Begrenzung immerfort da ist und eben den Charakter
der Geschlossenheit im ästhetischen Sinne möglich macht.

Vielleicht daß jemand den Einwurf macht: Der tektonische Stil sei immer
der Stil der Feierlichkeit und man werde zu allen Zeiten nach ihm grei-
fen, sobald die Absicht auf eine getragene Wirkung vorliege. Darauf wäre
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